Der Einfluss neuer Technologien auf die Privatsphäre

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Der Einfluss neuer Technologien auf die Privatsphäre

von Nicolas Bach, nexus, Berlin, und Louise Horvath, ICCR, Wien

Neue Technologien eröffnen vielfältige Möglichkeiten für die Erfassung und Verarbeitung personenbezogener Daten. Sie bergen jedoch zunehmend das Risiko, dass es zu Eingriffen in die Privatsphäre von Personen kommt. Das dreijährige, internationale Forschungsprojekt PRACTIS untersucht den Einfluss neu aufkommender Technologien auf das Verständnis von Privatheit und leitet hieraus Empfehlungen für den zukünftigen juristischen und ethischen Umgang mit möglichen Konflikten ab, die sich aus dem Spannungsfeld von Technologie und Privatheit ergeben.

1     Kontext

Neue Technologien sind zunehmend allgegenwärtig in unserem Umfeld, sichtbar bis unsichtbar in unserem Leben verankert. Insbesondere neue Informations- und Kommunikationstechnologien sind kaum noch aus dem Alltag wegzudenken: E-Mails haben Briefe oder Postkarten größtenteils ersetzt, Reiseplanungen und Einkäufe werden über das Internet getätigt, das mit der zunehmenden Verbreitung von Smartphones und damit des mobilen Internets geographisch immer unabhängiger wird. Diese Entwicklungen haben jedoch auch ihre Kehrseiten: Die Durchdringung unseres Lebens durch Technologien birgt neben praktischem Nutzen auch die Gefahr des Missbrauchs von Daten. Schon allein, weil durch die Nutzung von Internetdienstleistungen zunehmend persönliche Daten an Serviceanbieter übermittelt werden, erhalten diese die Möglichkeit, individuelle Profile anzulegen. Für Unternehmen birgt dies den Vorteil, dass sie z. B. persönlich zugeschnittene Werbeangebote versenden können. Doch diese Profilbildung durch eine automatisierte Verarbeitung von Daten, führt zu neuen Herausforderungen für die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen.

Dabei geht es um den Einfluss von Technologien auf die Privatsphäre, spürbar in Deutschland derzeit v. a. in den kontroversen Diskussionen um „Google Street View“ und das soziale Netzwerk „Facebook“. Dieser Zusammenhang soll durch das internationale Forschungsprojekt PRACTIS untersucht werden, das im Rahmen des siebten Forschungsrahmenprogramms der Europäischen Kommission gefördert wird. Auf Basis der Ergebnisse werden geeignete ethische und rechtliche Handlungsempfehlungen entwickelt, die als Orientierung im Umgang mit neuen Technologien dienen sollen. Das Akronym PRACTIS steht für „Privacy – Appraising Challenges to Technologies and Ethics“ (http://www.practis.org).

Folgende Projektpartner arbeiten in diesem Forschungsprojekt zusammen:

2     Privatsphäre

Das Recht auf Privatsphäre ist ein Grundrecht, das bereits in Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen festgeschrieben wurde. Allerdings ist das Konzept Privatheit nicht klar definiert und variiert je nach Kontext, in dem der Begriff verwendet wird. Eine der bekanntesten Definition stammt von den Juristen Warren und Brandeis, die Privatheit als „the right to be left alone“ definierten (Warren, Brandeis 1880). Die möglichen Implikationen von Massenmedien auf die Privatsphäre der Einzelnen waren für sie Ausgangspunkt, den Schutz der häuslichen Privatsphäre ins Zentrum zu rücken. Heutzutage ist dieser Anspruch durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung genauer ausformuliert, das in seiner Definition von Westin als „the claim of individuals, groups or institutions to determine for themselves when, how and to what extent information about them is communicated to others” bestimmt wird (Westin 1967, S. 7). Das internationale Forschungsprojekt PRACTIS untersucht mögliche Entwicklungspfade in der Wahrnehmung, Bedeutung und Reichweite von Privatheit und des Schutzes der Privatsphäre. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass Technologien unser begriffliches Verständnis von Privatheit beeinflussen.

3     Projektdesign

Das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt untersucht, welche Auswirkungen neue Technologien und ihre Vernetzung auf die individuellen und strukturellen Werte hatten und haben, auf denen das Recht auf Privatheit basiert. In diesem Zusammenhang wird analysiert, wie neue Technologien unser Verständnis von Privatheit beeinflussen und ob bzw. wie das Konzept „Privatheit“ hierdurch verändert wird. Das zeitliche Spektrum der Untersuchung umfasst sowohl einen Rückblick als auch eine zukunftsgerichtete Erarbeitung möglicher Entwicklungsszenarien. Auf Basis der Resultate wird ermittelt, wie bestehende Rechtssysteme angepasst werden könnten, um neuen Herausforderungen zu begegnen.

Da die Einführung moderner Technologien das bestehende Verständnis von Privatheit verändern kann, ist das Forschungsprojekt PRACTIS mit der Herausforderung konfrontiert, in einem sich verändernden Untersuchungsfeld tätig zu sein: Was heute als Eingriff in die Privatsphäre empfunden wird, kann künftig als völlig normal angesehen werden. Allerdings ist auch eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung denkbar: Was aktuell nicht als Bedrohung der Privatheit angesehen wird, kann durch die Einführung neuer oder die Verbesserung bestehender Technologien zu einer werden. Aspekte, die bedrohungsverstärkend wirken können, sind insbesondere eine größere räumliche Abdeckung, eine höhere Effizienz, eine verminderte Sichtbarkeit und eine höhere Vernetzung von Technologien, die zu Überwachungszwecken ziviler oder sicherheitstechnischer Natur genutzt werden.

Das PRACTIS-Projekt ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten, analytischen Teil, werden technologische Entwicklungen und das Verständnis von Privatheit untersucht. Im zweiten, deduktiven Teil des Projekts, werden mögliche Konsequenzen für die nationalen und europäischen Rechtssysteme sowie die Systemstrukturen daraus abgeleitet.

Im Rahmen des analytischen Teils werden folgende Aspekte eingehender untersucht:

Der deduktive Teil des Forschungsprojekts betrachtet vor diesem Hintergrund die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen in Europa und erarbeitet mit ExpertInnen Empfehlungen für staatliche Organe, Interessenvertretungen und Einzelpersonen.

Der internationale Ansatz des Projekts ermöglicht eine komparative Analyse eventueller Unterschiede des Verständnisses von Privatheit. Wenn möglich, sollen die unterschiedlichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Umstände der beteiligten Länder der Ableitung von Typen dienen.

4     Projektverlauf

Zu Beginn des Forschungsprojekts PRACTIS wird ein Technologie-Scan durchgeführt, der einen Überblick zu Technologien geben soll, die eine Gefahr für die Privatheit darstellen können. Der Schwerpunkt der Untersuchung wurde auf folgende Technologien und Forschungsbereiche gelegt:

Ziel der Untersuchung ist es zum einen, relevante Technologien zu ermitteln und zum anderen, deren aktuellen und zukünftigen Einfluss auf die Privatheit einzuschätzen und detaillierter zu beschreiben. Methodisch wird dieses Ziel durch die Kombination von Internet- bzw. Literaturrecherchen sowie Experteninterviews erreicht, die zentral ausgewertet und zu einem Technologiereport zusammengefasst werden.

Parallel zum Technologie-Scan wird die Veränderung des Verständnisses des Begriffes „Privatheit“ untersucht. Dies geschieht in drei Schritten: Als erstes wird ein Literaturüberblick über bereits durchgeführte empirische Untersuchungen zum Thema Privatheit zusammengestellt, dessen Ergebnisse in den zweiten Teil dieses Forschungsabschnitts, die Durchführung einer Befragung von Jugendlichen zum Thema Privatheit und Datensicherheit, einfließen. Als dritter Schritt werden ebenfalls Experteninterviews durchgeführt, deren Ergebnisse in eine Onlineumfrage einfließen werden, die sich an ExpertInnen unterschiedlichster Disziplinen in Europa richten wird.

Auf Grundlage der Ergebnisse des Technologie-Scans und der sozialwissenschaftlichen Untersuchung des Verständnisses von Privatheit werden Zukunftsszenarien ausgearbeitet, die das Wechselspiel von unsicheren, neuen Technologieentwicklungen und eines potenziellen Wandels des Verständnisses von Privatheit berücksichtigen.

In einem weiteren Arbeitspaket wird untersucht, welche Auswirkungen dies auf juristische und ethische Rahmenbedingungen in der Zukunft haben wird. Hierbei soll insbesondere auch die Rolle des Rechts als Schnittstelle zwischen der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Privatheit, ethischen Werten und technologischen Entwicklungen untersucht werden.

Abschließend werden Auswirkungen für Regierungen, Interessenvertretungen und einzelnen Personen untersucht. In diesem Arbeitspaket werden die Ergebnisse aller vorhergehenden Arbeitspakete in einem Abschlussbericht zusammengefasst. Desweiteren wird in diesem Zusammenhang untersucht, ob die bestehenden Datenschutzrichtlinien der EU in der Lage sind, mit den Herausforderungen umzugehen, die sich für die Privatheit aus der Nutzung neuer Technologien ergeben. Zusätzlich werden auch Empfehlungen für den weiteren Umgang der Politik mit diesem Themenkomplex entwickelt.

5     Erste Ergebnisse und Ausblick

Zurzeit befindet sich das Projekt PRACTIS in der analytischen Phase. Die Literaturrecherchen und die Experteninterviews sind abgeschlossen und die SchülerInnenbefragungen werden derzeit durchgeführt.

Der Literaturüberblick, der insgesamt 47 Publikationen berücksichtigt, zeigt, dass bereits einige empirische Untersuchungen zur Veränderung des Verständnisses von Privatheit durchgeführt worden sind, diese sich jedoch hauptsächlich auf die Internetnutzung und hierbei insbesondere auf die Nutzung sozialer Netzwerke konzentrieren. Es sind bisher nur wenige Untersuchungen zu anderen Technologiebereichen unternommen worden.

Die bereits abgeschlossenen Untersuchungen deuten auf eine Veränderung des Verständnisses von Privatheit unter Jugendlichen hin. Dies ist nicht gleichzusetzen damit, dass Jugendliche im Internet sorglos mit persönlichen Daten umgehen, sondern dass ein differenzierterer Umgang mit persönlichen Daten stattfindet. Konkret bedeutet dies, dass junge Menschen zunehmend im Einzelfall entscheiden, welche persönlichen Daten sie welchen Usern zugänglich machen (Boyd 2008). Ein weiterer wichtiger Faktor, der das Surfverhalten von Jugendlichen und damit auch die Nutzung von Privacy-Einstellungen beeinflusst, ist das Verhalten ihrer FreundInnen: Wenn der Freundeskreis Privacy-Einstellungen in sozialen Netzwerken intensiv nutzt, ist die Wahrscheinlichkeit, sich ebenso zu verhalten, höher. Gleiches gilt allerdings auch für den umgekehrten Fall (Lewis et al. 2008). Im Gegensatz zur Aussage von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg (Johnson 2010), dass Privatheit als soziale Norm überholt sei, zeigen Langzeituntersuchungen, dass Privatheit nach wie vor ein wichtiger Wert ist, auch unter jungen Menschen (Electronic Privacy Information Center 2008; Privacy Commissioner New Zealand 2010). Allerdings scheint es einen Bedarf nach Aufklärung zu geben, da viele Internet-User sich nicht bewusst sind, welche Folgen oder Gefahren die Weitergabe persönlicher Daten nach sich ziehen könnte (Acquisti, Gross 2006).

Insgesamt 45 ExpertInnen aus unterschiedlichen Disziplinen wurden innerhalb der sechs Projektländer befragt. Die so gewonnenen Ergebnisse dienen als Grundlage für die konzipierte Online-Umfrage, die seit dem Spätherbst 2010 durchgeführt wird. Dabei ist ersichtlich, dass nationale Unterschiede beim Verständnis von Privatheit und den möglichen Risiken oder Unsicherheiten in Bezug auf Missbräuche zu beachten sind. Die künftigen Herausforderungen und Risikoquellen für die Privatsphäre in Europa werden als diametral unterschiedlich wahrgenommen. Dem Orwellschen Verständnis vom Staat als der Gefahr für die Privatsphäre des Einzelnen stehen Szenarien gegenüber, bei denen v. a. international agierende Unternehmen als „Datenkraken“ wahrgenommen werden.

Fragen nach der Wahrnehmung von Privatheit deuten in den Experteninterviews darauf hin, dass die Abgrenzung zwischen dem Verhalten des Einzelnen und seinen Einstellungen nicht klar gezogen wird; die Ansichten darüber, ob sich im Verhalten des Einzelnen ein bloßes Aufklärungsdefizit von beispielsweise Internet-Usern offenbart, oder ob es sich um eine Veränderung der Einstellungen gegenüber persönlichen Daten handelt, variieren. Relativ einig scheinen allerdings die ExpertInnen darüber zu sein, dass – unabhängig davon ob Begrifflichkeiten wie „digital natives“ versus „digital immigrants“ passend sind – junge Menschen einen völlig anderen Umgang mit ihrer Privatsphäre haben. Ob die Gründe dafür tatsächlich in einer anderen Wahrnehmung von Privatheit zu suchen sind, bleibt weiter offen. In den Interviews drehte sich die Diskussion v. a. um Internet- und Kommunikationstechnologien: Einstellungen von Jugendlichen oder auch der breiteren Bevölkerung zu beispielsweise Überwachungstechnologien werden nur angeschnitten, und völlig außen vor bleiben Fragen zu Nanotechnologien, Biotechnologien und Konvergierenden Technologien. Damit betritt PRACTIS ein Feld, in dem Erkenntnisse den Diskurs wesentlich erweitern werden.

In Bezug auf die zukünftigen Herausforderungen lässt sich an den Experteninterviews ablesen, was sich möglicherweise quantitativ bestätigen könnte: Die Systeme, sowohl rechtlich als auch politisch, stehen massiven Herausforderungen gegenüber, und werden reformiert werden müssen, um innerhalb eines Felds voller Unsicherheiten voraussehend agieren zu können, statt bloß zu reagieren. Wie weit diese Flexibilisierung gehen soll, ob es sich dabei um eine stärkere Einbindung bzw. Stärkung zivilgesellschaftlicher Verantwortungsübernahme, einer Neustrukturierung des Datenschutzsystems, ein völliges Umkrempeln des rechtlichen Prozedere sein wird, sind Fragen, die im weiteren Verlauf des Projekts PRACTIS thematisiert werden. 

Literatur

Acquisti, A.; Gross, R., 2006: Imagined Communities. Awareness, Information Sharing, and Privacy on the Facebook; http://petworkshop.org/2006/preproc/preproc_03.pdf (download 7.5.10)

Johnson, B., 2010: Privacy no Longer a Social Norm, Says Facebook Founder. In: Guardian.co.uk vom 11. Januar 2010; http://www.guardian.co.uk/technology/2010/jan/11/facebook-privacy (download 27.10.10)

Boyd, D., 2008: Taken Out of Context. American Teen Sociality in Networked Publics. University of California; http://www.danah.org/papers/TakenOutOfContext.pdf (download 7.5.10)

Electronic Privacy Information Center, 2008: EPIC – Public Opinion on Privacy; http://epic.org/privacy/survey/default.html (download 10.5.10)

Generalversammlung der Vereinten Nationen, 1948: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; http://www.un.org/Depts/german/gruendungsres/grunddok/ar217a3.html (download 5.10.10)

Lewis, K.; Kaufman, J.; Christakis, N., 2008: The Taste for Privacy. In: Journal of Computer-Mediated Communication 14 (2008); http://www.wjh.harvard.edu/%7Ekmlewis/privacy.pdf (download 7.5.10)

Palfrey, J.; Gasser, U., 2008: Born Digital, New York

Privacy Commissioner New Zealand (Hg.), 2010: Individual Privacy & Personal Information; http://www.privacy.org.nz/assets/Files/Surveys/Privacy-survey-2010.pdf (download 7.7.10)

Warren, S.D.; Brandeis, L.D., 1880: The Right to Privacy. In: Harvard Law Review 4/5 (1880)

Westin, A.F., 1967: Privacy and Freedom, New York

Kontakt

Nicolas Bach
Nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung GmbH
Otto-Suhr-Allee 59, 10585 Berlin
Tel.: +49 30 318054–65
E-Mail: bach∂nexusinstitut.de