M. Voß: Gesunde Gene. Die mediale Diskussion um die Gentherapie/S. Rödder: Wahrhaft sichtbar. Humangenomforscher in der Öffentlichkeit

Rezensionen

Ist Medialisierung nur ein theoretisches Konstrukt?

Befunde aus zwei empirischen Studien zur Wissenschafts-Medien-Kopplung im Bereich Lebenswissenschaften
M. Voß: Gesunde Gene. Die mediale Diskussion um die Gentherapie. Bielefeld: transcript, 2010, 254 S., ISBN 978-3-8376-1237-0, € 27,80
S. Rödder: Wahrhaft sichtbar. Humangenomforscher in der Öffentlichkeit. Baden-Baden: Nomos, 2009, 276 S., ISBN 978-3-8329-4268-7, € 36,00

Doppelrezension von Christiane Hauser, ITAS

1     Einleitung: Medialisierung auf dem empirischen Prüfstand

Die Medialisierung der Wissenschaft (genauso wie die der Politik) wird in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder aufgegriffen (vgl. z. B. Weingart 2005), wenn auch in neuerer Zeit durchaus mit einem differenzierteren oder gar kritischen Unterton (z. B. Vowe 2006; Krotz 2007). Neben theoretisch-konzeptionellen Überlegungen häufen sich erfreulicherweise auch empirische Arbeiten zu diesem Themenbereich (etwa Peters et al. 2008). Hierzu zählen auch die beiden hier vorgestellten Bücher. Beide Publikationen sind auf Grundlage von Dissertationen entstanden, die am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld im Rahmen des Graduiertenkollegs „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ von Peter Weingart betreut wurden. Daher überrascht es nicht, dass beide sich auch mit seinen theoretischen Überlegungen zum Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit auseinandersetzen. Überraschend dagegen die Erkenntnis nach dem Lesen beider Bücher, dass sie Weingarts Überlegungen mindestens stark relativieren, wenn nicht sogar widerlegen.

Nimmt man Weingarts These von der Medialisierung und die von ihm beschriebenen zwei Dimensionen, die dieses Konstrukt umfasst – nämlich die „zunehmende mediale Aufmerksamkeit für die Wissenschaft“ einerseits und die „zunehmende Orientierung der Wissenschaft an den Erwartungen der Medien“ andererseits (Rödder 2009, S. 48) – so greifen die vorliegenden Arbeiten jeweils eine davon auf und gehen ihr empirisch auf den Grund. Während Voß die mediale Berichterstattung über Gentherapie näher beleuchtet und damit die Auswirkungen der Medialisierung im Mediensystem im Blick hat, widmet sich Rödder der Wahrnehmung dieses Phänomens und der Reaktion darauf aus Sicht von Wissenschaftlern, also den möglichen Folgen im Wissenschaftssystem.

Ebenfalls gemein ist beiden Arbeiten, dass sie sich ein eher spezifisches wissenschaftliches Thema aus dem Bereich der Lebenswissenschaften herausgreifen (Gentherapie bzw. Humangenomforscher, die im Humane Genome Project mitgearbeitet haben), an dem sie ihre konzeptionellen Überlegungen empirisch exemplifizieren, und nicht ein breites Thema wie etwa Bio- oder Gentechnologie wählen. Dies ermöglicht in beiden Fällen eine sehr detaillierte und tiefgehende Analyse des empirischen Materials, die der Beleuchtung des Phänomens Medialisierung durchaus zuträglich ist. Darüber hinaus sind beide Themen eng mit gesellschaftlichen Werten und Normen verknüpft – ein Grund dafür, dass sie zumindest zeitweise starke Präsenz in der Öffentlichkeit, und das heißt v. a. in den Medien, genossen. Dies spiegelt sich auch im empirischen Material wider.

2     Miriam Voß: Mediale Berichterstattung zu Gentherapie

Miriam Voß geht in ihrer Analyse der Medienberichterstattung über Gentherapie von dem Konzept der (Re-)Kontextualisierung von kontroversen Ideen bzw. Techniken aus, mit Hilfe dessen eine spezifische Idee oder Technik zu einer wenig(er) kontroversen Handlungsoption wird. In diesem Prozess der Kontextualisierung, der von bestehenden kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen abhängt, spielen Medien für die Zuweisung von gesellschaftlicher Bedeutung eine große Rolle. Für eine Erklärung der Integration neuer Techniken zieht Voß zwei Thesen heran: die Erosionsthese einerseits, die davon ausgeht, dass die einer (medizinischen) Technik entgegenstehenden Werte im Laufe der Zeit verfallen (oder erodieren), bis die Technik gesellschaftlich akzeptabel erscheint; die Inkorporations- oder Funktionalitätsthese andererseits, die postuliert, dass Widerstände gegen eine Technik aufgegriffen und bei der weiteren Gestaltung dieser berücksichtigt werden. Dies verändert die Widerstände – im Zeitverlauf und mit fortschreitender Technikentwicklung mögen diese gar verschwinden. Wie die Gentherapie in der medialen Berichterstattung kontextualisiert wird, welche der beiden genannten Thesen bei der gesellschaftlichen Integration des Gentransfers in menschliche Zellen, der Gentherapie, zutrifft und welche Rolle dabei die Assoziation der medizinischen Option mit dem Wert Gesundheit spielt, steht im Mittelpunkt der Arbeit von Miriam Voß.

Um diese Aspekte der medialen Debatte anhand empirischer Daten genauer erörtern zu können, wählt Voß eine zweigeteilte Vorgehensweise. Sie führt einerseits eine quantitative Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung zur Gentherapie für die Jahre 1970 bis 2001 durch, in der an den beiden deutschen Leitmedien Frankfurter Allgemeine Zeitung und Spiegel vorrangig die Veränderungen der medialen Debatte nachgezeichnet werden. Diese wird ergänzt durch eine qualitative Analyse einzelner Artikel aus dem Datensample, ohne dass allerdings im Einzelnen klar wird, welche Artikel nach welchen Kriterien hier Eingang fanden. Ziel der qualitativen Analyse ist die Ergänzung und Erweiterung der Ergebnisse aus dem ersten Untersuchungsschritt.

Während die quantitative Analyse v. a. deskriptiv vorgeht und sich an verschiedenen inhaltlichen Aspekten der Kontextualisierung der Gentherapie orientiert, wählt Voß für die Darstellung der Ergebnisse aus der qualitativen Inhaltsanalyse die zusammenfassende Beschreibung der herangezogenen Artikel in den vier vorher definierten Phasen der Berichterstattung. Was in der Beschreibung des quantitativen Datensatzes zum Teil noch recht trocken daher kommt, gewinnt in diesem zweiten Teil der Untersuchung an Plastizität und Anschaulichkeit.

In beiden empirischen Teilen ihrer Arbeit kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die eingangs beschriebenen Thesen zur Integration einer wertsensiblen Technik wie der Gentherapie in die Gesellschaft nicht oder nur teilweise zutreffend sind. So finden sich keine Belege für die Erosionsthese, vielmehr erfolgt im Laufe der Berichterstattung über den Gentransfer in menschliche Zellen eine Re- bzw. Neukontextualisierung des Themas, insbesondere durch die Trennung zwischen somatischer Gentherapie[1] und Keimbahnintervention[2] und damit das Aufgreifen der Unterscheidung zwischen Therapie und Optimierung. Im Folgenden werden alle mit der therapeutischen (und damit konfliktärmeren) Option assoziierten Entwicklungen in der medialen Debatte eher positiv dargestellt, die ethischen Bedenken konzentrieren sich fortan vorrangig auf die Keimbahnintervention, die politisch auch entsprechend reguliert wird bzw. ist. Voß beschreibt diesen Befund als Beleg für die Inkorporationsthese und konstatiert, dass die (mediale) Konzeption einer Technik bestimmend für deren Darstellung in den Medien ist.

Die Stärke der Studie liegt v. a. in der Analyse und Einordnung des reichhaltigen empirischen Materials. Wo der theoretische und methodische Teil eher knapp ausfällt (ohne zunächst wesentliche Punkte komplett vermissen zu lassen), wird die mediale Debatte zur Gentherapie ausführlich und spannend beschrieben. Die abschließende Diskussion der Ergebnisse fasst die zentralen Aussagen der Untersuchung noch einmal anschaulich zusammen und ordnet sie in die bestehende Forschungsliteratur und darin beschriebene Modelle wissenschaftlicher Öffentlichkeit ein.

3     Simone Rödder: Öffentlich sichtbare (und unsichtbare) Humangenomforscher

Die zweite hier betrachtete Arbeit von Simone Rödder hat zum Ziel, am Beispiel der Humangenomforschung zu explorieren, wie sich das Berufsverständnis von Wissenschaftlern ändert, die in Zeiten hoher Medienaufmerksamkeit mit Sichtbarkeitserwartungen konfrontiert werden. Rödder nennt dies selbst „Sichtbarkeitsfolgenabschätzung“ und formuliert als forschungsleitende These ihrer Arbeit, dass sich die an die Wissenschaftler gestellten Erwartungen bezüglich ihrer Sichtbarkeit gerade in Zeiten der Medialisierung auch in ihren Selbstbeschreibungen finden lassen müssten. Fraglich erscheint nach ihrer Darstellung der Literatur in diesem Forschungsfeld allerdings, ob es dabei zu Entdifferenzierungs- oder Differenzierungsprozessen innerhalb des Wissenschaftssystems kommt. Während die erste Position davon ausgeht, „dass unter den medialen Bedingungen moderner Wissenschaft Aufmerksamkeitsorientierung im System handlungsleitend und damit strukturwirksam wird“ (Rödder 2009, S. 70), postuliert die Differenzierungsthese zwar ebenfalls strukturelle Anpassungen der Wissenschaft, nimmt aber an, dass diese eher dazu dienen, die Systemgrenzen zu schützen und zu stabilisieren. Diese, wie auch andere theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, greift Rödder im ersten ausführlichen Teil ihrer Arbeit auf und leitet so sprachlich gewandt ihre Forschungsfrage und ihr empirisches Design ab. Sie stellt dabei überzeugend die bisherigen Überlegungen in diesem Feld dar, die vielfach die Wissenschaftler selbst nicht im Blick haben.

Dem will sie mit ihrer Studie abhelfen, die sich auf Wissenschaftler konzentriert, die am Human Genome Project (HGP) mitgewirkt haben. Sie wählt diese Einschränkung bewusst, da bei der im Rahmen des HGP angestrebten Sequenzierung des menschlichen Erbguts zumindest in der Schlussphase von 1998 bis 2001 aufgrund des Einstiegs einer privaten Firma ein Wettlauf um den wissenschaftlichen Durchbruch stattfand, der hohe Medienaufmerksamkeit nach sich zog. Mittels Interviews mit beteiligten Wissenschaftlern aus vier Ländern (Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA) geht sie der Frage auf den Grund, ob sich die so entstandenen Sichtbarkeitserwartungen in Verhaltens- oder Einstellungsänderungen niederschlagen. Dabei unterscheidet sie zwischen sichtbaren und nicht sichtbaren Wissenschaftlern, also solchen mit hoher Medien- (und Öffentlichkeits-)Präsenz und solchen, die selbst in Zeiten hoher Medienaufmerksamkeit primär im wissenschaftlichen Kontext in Erscheinung traten. Sowohl deren Auswahl als auch die weiterer Interviewpartner zur Kontextualisierung der Befunde wird ‑ wie die gesamte methodisch-empirische Umsetzung ‑ transparent und plausibel dargestellt.

Im zweiten großen Teil der Arbeit beschreibt Rödder ausführlich, auch anhand einer Vielzahl von Zitaten, die Ergebnisse ihrer empirischen Analyse. Dabei unterscheidet sie, wie die Befragten selbst, zwischen institutioneller und individueller Sichtbarkeit. Während fast alle Interviewten die Erwartung von Sichtbarkeit an Organisationen teilen und unterstützen, ist dieses Bild bei der individuellen Sichtbarkeit von Wissenschaftlern eher gemischt. Trotz des Befundes, dass die Medienöffentlichkeit als wichtigste Sichtbarkeitsebene anerkannt und Sichtbarkeit generell als bedeutend gerade für Großprojekte wie das HGP eingeordnet wird, zeigt sich, dass tatsächliche mediale Sichtbarkeit ein marginales Phänomen bleibt. Rödder sieht die Gründe dafür v. a. in normativen Erwartungen und Ambivalenzen, die die Wissenschaftler selbst über ihre eigene Rolle haben. Sie entstehen im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen und medialen Anerkennungskriterien und Darstellungsnormen.

Im Umgang mit diesen verschiedenen Erwartungen greifen Wissenschaftler zum Instrument der Differenzierung: Indem bestimmte „Arten“ von Sichtbarkeit als angemessen, andere als unangebracht eingeordnet werden, lösen die Interviewpartner die Spannung für sich auf. Dabei identifiziert Rödder vier verschiedene Typen von Wissenschaftlern, die sich jeweils in ihrem Umgang und in ihrem Selbstverständnis, aber auch in ihren Sichtbarkeitserwartungen an Kollegen und Institutionen unterscheiden: den „Geek“[3], den Missionar, den Anwalt des Wissens und den öffentlichen Wissenschaftler. Spannend liest sich ihre Beschreibung und Interpretation dieser vier Typen, die immer an die vorherigen Befunde und konzeptionellen Überlegungen rückgebunden sind und dadurch zu überaus interessanten Ergebnissen führen.

Im abschließenden Kapitel ihrer Arbeit werden diese nochmals dargestellt und in ein Zwei-Stufen-Konzept „wahrhafter Sichtbarkeit“ überführt, das, stark verkürzt, davon ausgeht, dass zuerst immer eine innerwissenschaftliche Bewertung von Inhalten nach dem „Wahrheitskriterium“ stattfindet und erst in einem zweiten Schritt Aufmerksamkeitsorientierung und das Einbeziehen gesellschaftlicher Werte und Normen angemessen erscheint. Selbst in Zeiten hoher Medienaufmerksamkeit wird die Herstellung von wissenschaftlichem Wissen von den Wissenschaftlern selbst strikt getrennt von der Darstellung dieses Wissens. Dies interpretiert Rödder als empirischen Beleg für einen Differenzierungsprozess, der zu einer Stabilisierung des Wissenschaftssystems beiträgt – und erteilt damit der Entdifferenzierungsthese eine klare Abfuhr.

4     Schlussbemerkung: Stabilisierung der Wissenschaft in Zeiten hoher Medienaufmerksamkeit

Auch wenn beide Autorinnen zunächst ganz unterschiedliche empirische Herangehensweisen wählen, um jeweils einen Aspekt des Phänomens Medialisierung näher zu beleuchten, kommen sie doch nach Abschluss der Datenauswertung und -interpretation zu einem ähnlichen Schluss: Insbesondere die Wissenschaft selbst bestimmt, wie wissenschaftliche Themen in der Öffentlichkeit und den Medien dargestellt werden. Die Deutungshoheit im Rahmen der medialen Berichterstattung über Wissenschaftsthemen liegt damit klar im Wissenschaftssystem. Öffentliche Leistungsrollenträger wie etwa Journalisten verändern diese nicht so stark wie im Kontext der Medialisierungsthese angenommen, sondern orientieren sich innerhalb der durch Nachrichtenwerte und spezifische Darstellungsformen geprägten medialen Logik stark an innerwissenschaftlichen Kriterien. Auch für die Wissenschaftler selbst trifft dies zu. Selbst in Zeiten hoher Medienaufmerksamkeit (wie in der Schlussphase des HGP) beziehen sie sich fast ausschließlich auf Relevanzkriterien aus dem Wissenschaftssystem selbst und bleiben weitestgehend unbeeindruckt von medialer Prominenz o. ä. Damit tragen auch die beiden vorgestellten empirischen Studien zur Relativierung des Medialisierungskonzepts bei. So könnten sie auch dazu beitragen, mit dem Vorurteil über den starken, einseitigen Einfluss der Medien auf Funktionssysteme wie das der Wissenschaft aufzuräumen.

Anmerkungen

[1]  Ziel der somatischen Gentherapie ist die Substitution von genetisch defekten Zellen. Dazu werden dem Patienten Zellen entnommen, diese werden vermehrt, gentechnisch verändert und wieder implantiert, oder man versucht die „heilenden“ Gene über Genfähren, sog. Vektoren, an ihr Ziel zu bringen.

[2]  Ziel der Keimbahnintervention ist es, vererbte Krankheiten, die auf einem Gendefekt beruhen, in der gesamten Nachkommenschaft eines Trägers des defekten Gens zu heilen. Das gesunde Gen wird dabei in die Keimzellen des Trägers eingesetzt und ist somit vererbbar. Diese Methode ist nach § 5 des Embryonenschutzgesetzes von 1990 in Deutschland verboten, da es sich um eine künstliche Veränderung der Erbinformation menschlicher Keimbahnzellen handelt.

[3]  Der Ausdruck „Geek“ (engl. umgangssprachlich für Streber, Stubengelehrter) hat sich im Laufe der Zeit gewandelt in die Bezeichnung für eine Person, die sich durch großes Interesse an wissenschaftlichen oder fiktionalen Themen auszeichnet. Als Geek bezeichnet man auch abfällig einen – häufig mit überdurchschnittlich hoher Intelligenz ausgestatteten – Menschen mit schwachen sozialen Fähigkeiten, oder jemanden, der diesen Anschein erweckt.

Literatur

Krotz, F., 2007: Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden

Peters, H.P. et al., 2008: Medialisierung der Wissenschaft als Voraussetzung ihrer Legitimierung und politischen Relevanz. In: Mayntz, R.; Neidhardt, F.; Weingart, P. et al. (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer: Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Bielefeld, S. 269–292

Vowe, G., 2006: Mediatisierung der Politik? Ein theoretischer Ansatz auf dem Prüfstand. In: Publizistik 4/51 (2006), S. 437–455

Weingart, P., 2005: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit. Weilerswist