Helmut Krauch, Nestor der Systemforschung in Deutschland, ist tot

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Helmut Krauch, Nestor der Systemforschung in Deutschland, ist tot

Ein Nachruf von Reinhard Coenen, Heidelberg, und Lothar Czayka, Neckargemünd

In unserem heutigen System ist die Repräsentierung der Bürger nur noch eine Fiktion.
Helmut Krauch (Computer-Demokratie, 1972)

Zeitlebens war Helmut Krauch als Denker und Forscher ein universeller Geist und auf vielen Gebieten ein Pionier. Der promovierte Chemiker begann seine wissenschaftliche Karriere 1953 am Heidelberger Max-Planck-Institut, ging 1956 als Forschungsstipendiat an die Yale University in die USA und wurde Mitarbeiter am Atomforschungszentrum Brookhaven National Laboratory. Schon damals begann er, interdisziplinär zu denken und zu arbeiten. Zunehmend interessierte er sich - über die naturwissenschaftlichen Fachgrenzen hinaus – auch für sozialwissenschaftliche Probleme und habilitierte sich später für Soziologie an der Universität Göttingen. Nach seiner Rückkehr gelang es ihm, mit einigen kongenialen Wissenschaftlern und finanzieller Unterstützung durch das damalige Bundesministerium für Atomenergie und Wasserwirtschaft die legendäre Heidelberger Studiengruppe für Systemforschung zu gründen, die zu ihrer Blütezeit 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigte. Diese interdisziplinäre Forschungsgruppe war sozusagen der erste öffentlich geförderte deutsche „Think Tank“ nach amerikanischem Vorbild. Während sich die Arbeit in der ersten Zeit v. a. noch auf Probleme der friedlichen Nutzung der Kernenergie konzentrierte, verlagerte sich der Schwerpunkt später auf Probleme der Forschungspolitik und Forschungsplanung sowie auf die Folgen des technisch-zivilisatorischen Fortschritts, ein Thema, das später als Technikfolgenabschätzung (TA) bekannt wurde.

Helmut Krauch kann als einer der Pioniere der Technikfolgenabschätzung angesehen werden. Bereits 1963 in einer Diskussion am Center for the Study of Democratic Institutions in Santa Barbara, Kalifornien, entwarf er in seiner Antwort auf die Frage: „Gibt es Anlass für die Hoffnung, in Zukunft den Fortschritt der Technik nach den Bedürfnissen der Gesellschaft auf demokratische Weise lenken zu können?“. Seine Antwort skizzierte die Grundzüge eines Drei-Stufen-Modells der TA. Stufe 1 bestehe in einer möglichst umfassenden (System-)Analyse der jeweiligen Technologie, ihrer Alternativen und ihrer Einbettung in die soziale Umwelt. Dies erfordere notwendigerweise interdisziplinäre Zusammenarbeit von Natur- und Sozialwissenschaftlern. Stufe 2 beinhalte eine intensive Kommunikation zwischen den Analytikern und Repräsentanten des jeweiligen Auftraggebers, die zu einem beidseitigen Lernprozess führen müsse nicht nur über die Chancen, sondern auch über die Folgen und mögliche Konfliktlinien. Auf Stufe 3 sei die Öffentlichkeit in diesen Kommunikations- und Lernprozess einzubeziehen.

Das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) kann als Nachfolgeeinrichtung der Studiengruppe für Systemforschung angesehen werden, da es maßgeblich durch ehemalige Mitarbeiter der Studiengruppe geprägt wurde, die nach deren Auflösung Mitte der 1970er Jahre die Krauchschen Konzepte in Karlsruhe weiterentwickelten.

Probleme der Rationalisierung von staatlicher Verwaltung sowie Probleme einer weitergehenden Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse waren weitere Forschungsthemen der Studiengruppe. So erhielt sie beispielsweise Aufträge für die Entwicklung von Vorschlägen zur Reorganisation des Bundeskanzleramts und des Patentamtes, beide mit dem Ziel der Erhöhung der Effizienz dieser Behörden. Im Hinblick auf eine stärkere Einbeziehung und Vertretung der Bürger in politischen Entscheidungsprozessen konzipierte Helmut Krauch das ORAKEL-Verfahren (Organisierte Repräsentative Artikulation Kritischer Entwicklungslücken), das längere Zeit im Fernsehen unter Online-Beteiligung von Zuschauern erfolgreich getestet wurde. Zuschauer konnten sich dabei per Telefon durch Diskussionsbeiträge an einer Expertendiskussion beteiligen und Bewertungen abgeben, die statistisch ausgewertet und in die Diskussion eingespeist wurden.

Die Computernutzung zur Verbesserung oder als Ergänzung demokratischer Prozesse war ein weiteres Thema, das Helmut Krauch bewegte. Dazu schrieb Krauch bereits 1972 sein Buch „Computerdemokratie“, das heute noch zitiert wird. Helmut Krauch war somit in vielerlei Hinsicht ein Vordenker, dessen Ideen noch heute aktuell sind.

Nach der Auflösung der Studiengruppe im Jahre 1974 folgte Helmut Krauch einem Ruf der Gesamthochschule Kassel auf einen Lehrstuhl für System-Design. Schwerpunkt seiner dortigen Forschungstätigkeit waren Experimente mit verschiedenen Prototypen des „Stirling-Motors“.

Obwohl Helmut Krauch in den letzten Jahren an den Rollstuhl gefesselt war, pflegte er seine zahlreichen Kontakte und verfolgte bis zuletzt seine vielfältigen wissenschaftlichen und kulturellen Interessen. Helmut Krauch starb am 14. Oktober 2010 im Alter von 83 Jahren.