Interdisziplinäre Technikbildung. Ein programmatischer Entwurf

Schwerpunkt: Technikfolgenabschätzung und Bildung

Interdisziplinäre Technikbildung

Ein programmatischer Entwurf

von Jan C. Schmidt, Hochschule Darmstadt

Mit der „Interdisziplinären Technikbildung“ wird in programmatischer Perspektive ein neuer Begriff vorgeschlagen. Er soll die Diskussion über interdisziplinäre Studienmodule in der technik-, natur- und informationswissenschaftlichen Hochschullehre stützen und stärken. Interdisziplinäre Technikbildung zielt (in Ergänzung zur jeweiligen Fachkompetenz) auf die Entwicklung von Sach-, Handlungs- und Urteilsbildungskompetenz über die Bedingungen, Wirkungen und Folgen von Technik und Wissenschaft in unseren spätmodernen Wissensgesellschaften. In diesem Sinne umfasst und bedarf Interdisziplinäre Technikbildung der TA. Im Folgenden wird das an der Hochschule Darmstadt erarbeitete Rahmenkonzept der Interdisziplinären Technikbildung skizziert.[1]

1     Ein neuer Anlauf

Vielleicht könnte ein neues Stichwort konzeptionell und begriffspolitisch weiterführend sein: Mit dem neuen Begriff der Interdisziplinären Technikbildung (nicht: technologische Bildung oder technische Bildung!) sollen grundlegende Ansätze und Arbeiten zur „Allgemeinen Technologie“ (Ropohl, Wolffgramm, Banse, u. a.) aufgenommen und für die Hochschullehre aufbereitet werden. So zielt Interdisziplinäre Technikbildung – mit der terminologischen Nähe zur Interdisziplinären Technikforschung (Schmidt, Gehrlein 2002) – darauf ab, den notwendigen Bildungsdiskurs über fächerübergreifende Kompetenzen in den technik-, informations- und naturwissenschaftlichen Studiengängen zu stärken und zu stützen.

In diesem Rahmen spielt die Technikfolgenabschätzung (TA) eine tragende Rolle – und das nicht nur als ein beliebiger Bereich der Technikbildung. Vielmehr: TA ist Interdisziplinäre Technikbildung im besten Sinne: als reflexive Selbstaufklärung der Gesellschaft über die Ambivalenz der Verwissenschaftlichungs- und Technisierungsprozesse. Insofern TA eine gesellschaftliche Gestaltung der soziotechnologischen Zukünfte einfordert und Partizipationsprozesse favorisiert, basiert sie auf und fördert sie Interdisziplinäre Technikbildung.

Dabei kommt der Interdisziplinären Technikbildung strategisch zu Gute, dass „Interdisziplinarität“, „Technik“ und „Bildung“ in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft en vogue sind. Offenbar bilden sie den Kern der derzeitigen Selbsterneuerung und Selbstbeschreibung der reflexiv- bzw. spätmodernen Wissensgesellschaften (Mode-2-Science, Technoscience, Post-Academic / Normal Science etc.). Die Trias gilt als Innovationsquelle und Ressource für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Wohlstand. So mag der Begriff der Interdisziplinären Technikbildung größtmögliche Zustimmung und Anschlussfähigkeit versprechen.

Was als Selbstverständlichkeit daherkommt, versteht sich bei kritischer Betrachtung allerdings nicht von selbst. Was Interdisziplinäre Technikbildung ist und sein soll, ist alles andere als klar. Diese Klärungsbedürftigkeit ist indes kein Nachteil. Vielmehr erweist sie sich als Türöffner für einen notwendigen Bildungsdiskurs: Was soll ein Ingenieur, ein Informatiker oder ein Naturwissenschaftler im 21. Jahrhundert wissen und können? Welche Sach-, Handlungs- und Urteilsbildung-Kompetenzen sind notwendig – wozu und wofür?[2] Derartige normative Fragen nach Zielen und Zwecken sind im hochschulpolitischen Diskurs rar geworden. Statt das Wozu und Wofür zu adressieren und diskursiv zu spezifizieren, dominiert das strategisch-instrumentelle Wie – als seien die Ziele bereits gegeben. Bildung wird verkürzt auf methodisch-didaktische Fragen der passgenauen Wissensvermittlung – ähnlich wie einst Technik als äußeres Instrument zur Verfolgung beliebiger Zwecke verstanden wurde.

2     Motive

Jeder Bildungsdiskurs wird – explizit oder implizit – von Motiven, Zielen und Zwecken getragen. Das gilt insbesondere für die Frage nach den fächerübergreifenden Kompetenzen in der natur-, technik- und informationswissenschaftlichen Hochschullehre, die stark disziplinär organisiert ist. Nun setzt ein Bildungsdis-kurs eine Explikation des Impliziten, also der Motive voraus.

Das Schlüsselqualifikations-Motiv. Die Debatte um Schlüsselqualifikationen hat der Hochschulbildung ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: Der Hochschul-Schlüssel passt nicht zum Praxis-Schlüsselloch. Folgt man dieser Argumentation, tritt Interdisziplinäre Technikbildung an, um die für den Berufsalltag notwendigen, jedoch in der fachorientierten Ausbildung fehlenden sozialen, kommunikativen und organisatorischen „Soft-Skill“-Kompetenzen zu fördern. Dazu gehören nicht nur Präsentations-, Darstellungs- und Schreibtechniken, sondern auch Kommunikations-, Verhandlungs- und Gesprächsführungstechniken: Schließlich erscheint die Berufspraxis sowohl den Aufgabenfeldern und den Gegenständen nach als auch hinsichtlich der Methoden und Wissensformen als „interdisziplinär“. Besonders hoch im Kurs steht interdisziplinäres Projekt- und Wissensmanagement, verbunden mit der initiierenden und koordinierenden Gestaltung heterogener Teams mit unterschiedlichen Charakteren, Fertigkeiten und Interessenlagen.

Das Problemorientierungs-Motiv. Technik und Wissenschaft zeigen sich als ambivalent. Nebenfolgen treten hervor, Risiken werden generiert. Die Grundannahme der Bacon’schen Moderne, nämlich dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt direkt einen human-gesellschaftlichen Fortschritt impliziere, hat sich als brüchig erwiesen. Die heutigen Problemlagen, etwa „global change“, sind einerseits durch Technik miterzeugt. Doch finden sich andererseits auch Problemlösungsansätze, in denen Technik eine Rolle spielt. So ist von einer engen Technikorientierung auf eine breitere gesellschaftliche Problemorientierung überzugehen. Entscheidend hierfür ist, den Wahrnehmungs- und Reflexionshorizont des individuellen, sozialen und institutionellen Handelns zu vergrößern und so zur reflektierten Urteilsbildung beizutragen. Interdisziplinäre Technikbildung entspricht diesem Bedarf an professionellem Handlungswissen für komplexe Technikentscheidungen.

Das „Personsein“-Motiv. Wenn hier von Bildung die Rede ist, sollte daran erinnert werden, dass Bildung nicht nur als Mittel für andere Zwecke verstanden werden kann, sondern auch als Zweck-an-sich-selbst. Das war und ist Stärke der Bildung. In der Tradition der Aufklärung wird der Mensch als vernunftbegabtes, aber noch nicht vernünftiges Wesen verstanden. Kant hat den Menschen in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als Projekt entworfen: Der Mensch ist sich selbst als Entwurf aufgegeben; um den Entwurf zu realisieren, bedarf es der Bildung. Aus dieser Perspektive fördert Interdisziplinäre Technikbildung das Personsein in der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation; sie trägt zur Subjekt- und Mündigkeitsentwicklung bei. Als Allgemeinbildung stellt sie die Bedingung der Möglichkeit von demokratischer Partizipation dar.

Die unterschiedlichen Motive – formuliert aus berufs-, problem- und subjektorientierter Perspektive (Ökonomie, Gesellschaft, Mensch) – schließen einander nicht aus. Doch zeigen sie eine Spannung im Bildungsverständnis – zwischen Instrumentalität und Reflexivität. Diese (dialektische) Spannung kann und soll von der Interdisziplinären Technikbildung nicht eliminiert werden. Schließlich wäre Bildung als Instrument ohne Reflexivität orientierungslos und blind; Bildung als Reflexivität ohne Instrumentalität wäre zwecklos und lahm.

3     Kompetenzziele

Dass überhaupt von Bildung im Umfeld von Technik gesprochen wird, ist bemerkenswert. Traditionell finden sich Bildung und Technik in dichotomen Welten. Insbesondere in der deutschen Bildungstradition, also im Horizont des Neuhumanismus, blieb Technik lange Zeit einÄußeres, d. h. lediglich ein Handwerk oder eine Kunstfertigkeit. Dass es an Gymnasien bis heute nur vereinzelt ein eigenständiges Schulfach „Technik“ gibt, zeigt die Wirkmächtigkeit des neuhumanistisch-idealistischen Bildungsideals. Weder die materialistische Traditionslinie der ehemaligen DDR noch die pragmatistische der angloamerikanischen Länder (Dewey u. a.), haben auf das heutige Gesamtdeutschland Eindruck machen können. Die Nachwehen des vom Bildungsbürgertum durchzogenen deutschen Idealismus haben nicht nur jeden materialistischen oder pragmatistischen Zugang bekämpft, sondern auch die Technik außerhalb der Bildung verortet – eine beträchtliche Hypothek.

So zielt Interdisziplinäre Technikbildung auf die interdisziplinäre Vermittlung dieser beiden Pole – Bildung und Technik. Welche Kompetenzen sind mit den o. g. Motiven impliziert? Was soll Interdisziplinäre Technikbildung, jenseits der disziplinären Technikkompetenz, leisten? Traditionell ist von drei LehrLern-Ebenen die Rede: Kopf, Hand und Herz (Pestalozzi). Analog kann man – wenn man den derzeitigen Hype des Begriffs „Kompetenz“ aufnehmen will – von Sach-, Handlungs-und Wertkompetenz sprechen.

Erstens: Interdisziplinäre Technikbildung bedarf eines reflexiven Wissens über den Gegenstand („Ontologie“: Was / Wie ist Technik?), über die Wissenstypen (Epistemologie: Was wissen die Technikwissenschaften?) und über die Methoden (Methodologie: Wie gehen Technikwissenschaften vor?). Ohne eine derartige reflexive Sachkompetenz – in Ergänzung zur disziplinären Fachkompetenz – kann es keine Interdisziplinäre Technikbildung geben (Euler 1999). Im Zentrum steht die Reflexion des Gegenstandes der Technikwissenschaften und des technischen Handelns: die Technik. Doch Technik meint nicht allein das unbezügliche Artefakt, wie innerhalb der technikwissenschaftlichen Fachdisziplinen üblich (Fachkompetenz). Vielmehr geht es um die humanen, ethischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Bedingungen, Wirkungen und Folgen von Technik und Wissenschaft (Sachkompetenz).

Zweitens: Interdisziplinäre Technikbildung zielt auf Entwicklung und Verbesserung von Handlungskompetenz im Umgang mit komplexen soziotechnischen Systemen. So umfasst Interdisziplinäre Technikbildung nicht nur theoretisches, sondern auch praktisches Wissen; sie will die Praxis erreichen, verändern und verbessern. So muss ihr Wissen bestehen können, d. h. sozial robust sein. Theoretisches Wissen allein ist nicht hinreichend, sondern muss schon als ein handlungsförmiges und operationalisierbares Wissen angelegt sein. Damit steht Interdisziplinäre Technikbildung in der materialistischen Bildungstradition: Es geht nicht allein um Interpretation der Welt, sondern um Veränderung und Verbesserung. Die Beobachter-Perspektive ist unzureichend; eine Teilnehmer-Perspektive ist gefragt. Dabei ist Interdisziplinäre Technikbildung – als Bildung – gewiss immer schon Praxis, und sie dient der Praxis. Praxis meint notwendigerweise „Partizipation“.

Drittens: Sach- und Handlungskompetenzen liefern noch keine Orientierung. Dazu ist eine Wert- und Urteilsbildungs-Kompetenz unabdingbar. Zwar mögen auch die o. g. Kompetenzen ohne normative Aspekte nicht auskommen. Doch eine explizite Reflexion und Revision der Normen findet sich dort nicht. Nach Kant vermag es allein die Urteilsbildung, sich kritisch zum Gegebenen zu stellen. Hier tritt der Mensch als Mensch hervor – mit der ihm eigenen Intentionalität: Er setzt Werte, verfolgt Ziele, realisiert Zwecke, hat Interessen. Interdisziplinäre Technikbildung zielt auf eine Reflexion und Revision des Normativen, individuell wie gesellschaftlich – als Bedingung der Möglichkeit von Technikbewertungen.

Die drei Kompetenz-Ziele sind nicht abtrennbar. Für die Entwicklung von Handlungs-Kompetenz ist – da sie kein algorithmisches Regelfolgen darstellt – Urteilsbildungs-Kompetenz notwendig. Urteilsbildungs-Kompetenz, die sich nicht auf die konkrete Sache und den Gegenstand bezieht, ist zweck- und wirkungslos.

4     Rahmentheorien

Wenn man Bildung in Kompetenzen zu fassen sucht, bleiben die Inhalte vage. Welche Inhalte könnten hilfreich sein, um die Kompetenzen theoriebasiert zu fundieren? Gibt es nicht wohl etablierte Theorien, die einen Rahmen für Interdisziplinäre Technikbildung darstellen? – Ja, die gibt es, wie im Folgenden gezeigt wird. Dabei wird TA allerdings – mit einer kleinen Ausnahme – nicht eigens aufgeführt, denn TA kann als Interdisziplinäre Technikbildung bestimmt werden (s. u.). So können die folgenden Rahmentheorien auch als Beitrag zu einer „Theorie der TA“ gelesen werden.[3]

4.1   Sachkompetenz

Wissenschaftstheorie. Im Zentrum steht die Frage, wie Technikwissenschaften zu charakterisieren sind. Gibt es spezifische Zugänge, Gegenstände, Wissenstypen, Methoden und Verwendungsformen, die den Technikwissenschaften eigen sind – und die sie von anderen Wissenschaften unterscheiden? Kann ein Allgemeines aller Technikwissenschaften identifiziert werden? Grundlegende Klärungen wurden von der begrifflich auf Johann Beckmann zurückgehenden „Allgemeine Technologie“ bereitgestellt (Ropohl 1979; Wolffgramm 1978; Banse, Reher 2004). Maßgeblich für die weitere Entwicklung der Allgemeinen Technologie war insbesondere die Notwendigkeit, für die Techniklehre an allgemeinbildenden Schulen eine fachwissenschaftliche Grundlage zu schaffen: Die Allgemeine Technologie erweist sich für die Technikdidaktik und die Ausbildung von Techniklehrern als fruchtbar. Ein Meilenstein zu einer (durchaus heterogenen) „Theorie der Technikwissenschaften“ wurde vor wenigen Jahren gelegt (Banse et al. 2006). Insofern heutige Technikwissenschaften stark theoretisch fundiert sind und sich somit eine hybride Mischung aus theoretischem Erkennen und technischem Gestalten findet, ergeben sich Anknüpfungspunkte zur breiten Diskussion um Technoscience, Mode-2- oder Post-Normal-Science sowie zur älteren Finalisierungsdebatte. Dass eine wissenschaftstheoretische Rekonstruktion methodologisch möglich und forschungsstrategisch hilfreich ist, haben Armin Grunwald, Carl-Friedrich Gethmann, Michael Decker u. a. nicht nur für die Technikwissenschaften herausgestellt, sondern insbesondere für die TA.[4]

Science and Technology Studies (STS) unter Einschluss der Techniksoziologie, der Technikgeneseforschung, der Innovationstheorie, den Wirtschaftswissenschaften sowie der Technikgeschichte: Technik, technisches und technikwissenschaftliches Handeln werden seit einigen Jahrzehnten zu Recht als sozialer Prozess bezeichnet. Demnach ist Technik real (artefaktisch-materiell) und sozial (Genese, Gestaltung und Gebrauch) konstruiert. Zur theoretischen Beschreibung der heterogenen Konstruktionsprozesse hat die Innovationsforschung Modelle der soziotechnischen Entwicklung vorgelegt – angefangen vom traditionellen Push-Pull-Modell über die modifizierten „evolutionaryeconomics“-Modelle bis hin zu den komplexen Netzwerk-Modellen (Weyer et al. 1997; Fagerberg et al. 2005). Rekonstruierbar sind Pfadentscheidungen und Selektionslogiken, Öffnungs- und Schließungsprozesse, Akteurskonstellationen und Machtkonzentrationen. Kaum zu überschätzen ist der Einfluss des ökonomischen Systems und die Marktdynamik des globalisierten Kapitalismus auf Innovationen. Detailliert wurde von historiografisch und kulturanthropologisch ausgerichteter STS-Forschung Material über den soziotechnologischen Wandel zusammengetragen (Hackett et al. 2008).

Technik- und Kulturphilosophie in Verbindung mit gesellschaftstheoretischen Zugängen: Der Begriff der Technik ist sowohl grundlegend wie fragwürdig. Nun schreitet die Technisierung der Gesellschaft voran, und mit ihr die Vergesellschaftung von Technik. Technik ist längt nicht mehr allein durch einen Mittel- oder Systemcharakter zu fassen und abzugrenzen. Technik scheint medial geworden zu sein; sie verschwindet und verwischt ihre Spuren, gerade weil sie allumfassend ist (Hubig 2006; Nordmann 2008): Technik ist Kultur und von dieser ununterscheidbar. Zur Klärung dieser Durchdringung bzw. Auflösung haben Technik- und Kulturphilosophie einiges beigetragen. Ein „Nachdenken über Technik“ als Teil Interdisziplinärer Technikbildung setzt die Kenntnis der „Klassiker der Technikphilosophie“ für die Gegenwartsgesellschaft voraus (Hubig et al. 2001). Wer den heutigen Stellenwert von Technik in der Gesellschaft deuten möchte – ob als postindustrielle, Informations-, Wissen-, Wissenschafts-, Risiko- oder Erlebnis-Gesellschaft, ob als Post-, Spät- oder reflexive Moderne, oder als wissenschaftlich-technische Zivilisation – , der wird um gesellschaftstheoretische Reflexionen kaum herumkommen.

4.2   Handlungskompetenz

Handlungs-, Planungs- und Entscheidungstheorien. Wer Handlungskompetenz entwickelnwill, sollte etwas vom Handeln wissen. Üblich ist es, den Handlungsbegriff hinsichtlich Intention / Ziel, Vollzug / Akt / Tun und Resultat / Herbeigeführtem zu differenzieren (Wright 1991) – also eine dreistellige Relation anzugeben. So kann eine Handlung im Zweck-Mittel-Konsequenz-Schema gefasst werden. An Handlungstheorien knüpfen Planungs- und Entscheidungstheorien an – oftmals ohne dies explizit zu machen. Technikplanungen und -entscheidungen werden von Akteuren auf individueller, kollektiver und institutioneller Ebene getroffen. Die Entscheidungen, die als Handlungen rekonstruierbar sind, basieren im Idealfall auf normativ gesetzten Rationalitätskriterien. Armin Grunwald (2000) hat hieran angeschlossen und eine kulturalistische Theorie des Planens vorgelegt. Unter Rekurs auf Handlungs-und Planungstheorien (im Zweck-Mittel-Schema) wurde der (Technik-)Gestaltungsbegriff präzisiert. Normativ wird sowohl ein Planungs- und Steuerungsoptimismus als auch ein Gestaltungspessimismus (technologischer Determinismus) verworfen.

Argumentationstheorie. Zum Handeln gehört auch das kommunikative Handeln, basierend auf dem Argumentieren. Aus der Logik sind Struktur und Geltungsanspruch unterschiedlicher Argumentationstypen bekannt, etwa deduktive, induktive und abduktive Argumente. Für die Interdisziplinäre Technikbildung liegen hier Anknüpfungspunkte, sowohl Argumentationstypen und -gänge (etwa von so genannten „Technikexperten“) zu rekonstruieren, zu bewerten und zu kritisieren als auch Argumente selbst zu erzeugen. Damit können die Bedingungen der Möglichkeit für einen argumentbasierten („herrschaftsfreien“) Diskurs bereitgestellt werden, wo im Prinzip der zwanglose Zwang des besseren Arguments zählt (oder zählen sollte).

Governance- und Public-Policy-Theorien unter Einschluss von Sozialpsychologie, Institutionentheorie / Institutionenökonomie und Rechtswissenschaft. Will man Handlungen verstehen und verbessern, sind (normative) Handlungstheorien notwendig, aber nicht hinreichend. So sind (deskriptiv) die realen individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen von Handlungen zu berücksichtigen. Klassisch sind die Arbeiten von Stanley Milgram zu Handlungen unter Autorität (Milgram-Experimente). Die Spieltheorie versucht, Handlungen unter Unsicherheit und Nichtwissen anhand ihrer Strategien formal zu beschreiben. Nach dem Ende des Steuerungsoptimismus sowie seiner Antagonisten, des technologischen Determinismus, rückt die Frage nach den gestaltenden Akteuren bzw. den subpolitischen Technikgestaltern in den Mittelpunkt. Dazu ist der regulatorisch-institutionelle bzw. rechtliche Rahmen notwendig, aber nicht hinreichend. Schließlich finden sich Governance-Prozesse an unterschiedlichen Knoten lokaler und globaler Netz(werk)e; ein technoscientific citizenship scheint sich zu etablieren. So ist die traditionelle Forschungs- und Technologiepolitik nur eine von vielen Politikbereichen. Heutzutage stellt die Schnittstelle Wissenschaft, Technik, Recht,Politik und Öffentlichkeit ein eigenes Handlungsfeld dar, auf welchem die gestaltenden Akteure zur Komplexitätsbewältigung spezieller Kompetenzen bedürfen (TA-Beratungspraxis). Interdisziplinäre Technikbildung zielt auf Stärkung dieser Kompetenz (Bröchler, Schützeichel 2007).

Methodisches: Spezifischer als o. g. Theorien sind Methoden, die über verschiedene TA-Konzepte hinweg als Kern von TA angesehen werden (Grunwald 2002). Diese stellen ebenfalls einen wesentlichen Teil der Interdisziplinären Technikbildung dar; zu ihnen gehören z. B. die Wertbaumanalyse, Experteninterview, Stoffstromanalyse, Systemmodellierung, Umweltverträglichkeitsprüfung, Planungszelle, Produktlinienanalyse, Risikoanalyse, Technology Forecasting, Leitbildassessment. Diese äußerst heterogenen Methoden, die sich in der TA etabliert haben, sind zentral für die Entwicklung von Handlungskompetenz im Umgang mit Technik.

4.3   Wert- und Urteilsbildungskompetenz

Ethik: Dieses Kompetenzfeld liegt im Kern der Ethik, d. h. der Reflexion und Revision des Normativen. Eine umfassende Technikethik entwickelte sich wegen der instrumentalistischen Verkürzung des Technikbegriffs erst recht spät – sieht man von Vorformen der jeweiligen Ingenieur-Berufskodizes zu Beginn des 20. Jahrhunderts einmal ab. Doch spätestens seit die Technikprobleme der Gesellschaft auf den Leib rückten, unterstützt durch Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung, hat sich die Technikethik als eigenes Feld etabliert (Lenk, Ropohl 1987). Bekanntlich hat der Verein Deutscher Ingenieure e.V. (VDI) seit den 1980er Jahren kontinuierlich an Ethik- und Technikbewertungs-Themen gearbeitet (Hubig, Reidel 2003; Appel et al. 1998). Zwar existieren unterschiedliche Zugänge zur angewandten Technik- und Ingenieurethik[5], doch herrscht mittlerweile Konsens hinsichtlich der Relevanz ethischer Reflexion über Technik (Grunwald 1996; Ropohl 1996). So gehört Ethik zur Interdisziplinären Technikbildung unzweifelhaft hinzu. Ausgerechnet die US-Amerikaner, die nicht selten als (ethikfreie) Technikoptimisten dargestellt werden, haben eine beachtliche Entwicklung hinter sich. Seit dem Jahr 2000 werden von der Akkreditierungsbehörde der ingenieur- und technikwissenschaftlichen Studiengänge nur noch solche anerkannt, die explizit Ethikmodule aufweisen. In den USA gibt es viele Lehrbücher der angewandten Ingenieurethik, einige Fachzeitschriften und eine breite Diskussion über „engineering education for the 21st century. Die Interdisziplinäre Technikbildung lernt von den USA.

Nachhaltigkeit. Ein wesentliches Movens, für Interdisziplinäre Technikbildung einzutreten, speist sich aus der Orientierung an Zukünftigem. Das gilt für alle der drei oben genannten Motive: Zukunft von Wirtschaft und Arbeitswelt, Zukunft der (menschlichen) Gattung und Gesellschaft, Zukunft des Person- und Subjektseins. Das Stichwort der „Nachhaltigkeit“ bzw. der nachhaltigen Entwicklung findet sich meist im Zentrum des gesellschaftlichen Zukunftsdiskurses – etwa im Hinblick auf intergenerationale Gerechtigkeit. Trotz (oder wegen) der inhaltlichen Unbestimmtheit eignet sich das Leitbild der „nachhaltigen Entwicklung“ als normativer Rahmen für einen gesellschaftlichen Diskurs über die gegenwärtigen Zukünfte. Der Diskurs trägt dazu bei, in bestimmten Kontexten die Nachhaltigkeitskriterien zu spezifizieren und zu operationalisieren. Was ist jeweils unter ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit zu verstehen? Wie sind Prinzipien der inter- und intragenerationalen Gerechtigkeit zu spezifizieren? Aber auch innerwissenschaftlich, bis in die Technikwissenschaften hinein, wirkt der Nachhaltigkeitsdiskurs. Nachhaltige Produkt-und Prozessentwicklung neuer Technologien gilt als Leitbild. Nachhaltigkeitskriterien dienen als normativer Bezugspunkt der Technikbewertung. Zur Urteilsbildungs-Kompetenz in der Hochschulbildung beitragen möchte auch das UNESCO-Programm „World Decade Education for Sustainable Development(2005–2014).[6] Hierzu wurden Förderprogramme sowie eine deutsche UNESCO-Professur für „Higher Education for Sustainable Development“ (Gerd Michelsen, Lüneburg) eingerichtet, die die Hochschulentwicklung in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung befördern soll. In der „Declaration of Barcelona wird explizit die „Engineering Education in Sustainable Development(2004) adressiert.[7] Für jede Form der Interdisziplinären Technikbildung ist ein derartiger normativer Rahmen wie das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zentral; hier wird Urteilsbildung und Technikbewertung expliziert gefordert (Shepard 2008).

Tugend und Haltung. Auch wenn Interdisziplinäre Technikbildung – entgegen dem Mainstream der deutschen Praktischen Philosophie – einen sozial- und institutionenethischen Zugang wählt, sollte eine spezifische individualethische Perspektive nicht übersehen werden. Denn (Technik-)Bildung hat, insofern sie Wert-Kompetenzen fördert, zunächst immer den einzelnen Menschen, das Subjekt, im Blick – auch wenn sie auf das Ganze zielt. Sodann kann nicht alleine auf die Entwicklung rational-analytischer Fähigkeiten fokussiert werden. Interdisziplinäre Technikbildung zielt darüber hinaus auf das Einüben von Tugend und Haltung. Wolf Lepenies (1997) spricht von „Erkenntnis mit Haltung“. Eine solch reflektierte Erkenntnis- und Handlungsform sollte für die Studierenden der avancierten Technik-, Natur- und Informationswissenschaften ein zentrales Lernziel darstellen.

Die vorgestellte Liste der Rahmentheorien ist gewiss nicht vollständig. Doch bildet sie einen ersten Ausgangspunkt zur weiteren inhaltlichen Konkretisierung des theoretischen Konzepts der Interdisziplinären Technikbildung. Für die konkrete Lehre bedeutet das freilich nicht, dass diese Theorien explizit zu lehren sind. Die Hochschul-Lehrpraxis mag sich von den Rahmentheorien anregen lassen und zur Auswahl von Vorlesungs-, Seminar- und Projektthemen beitragen. Mehr jedoch nicht. Die Lehrpraxis steht vor eigenen methodischdidaktischen Herausforderungen. Hierzu bedarf es der Erarbeitung und Entwicklung einer Didaktik und Methodik der Interdisziplinären Technikbildung. Eine solche Didaktik und Methodik allerdings wird nicht ohne die grundlegenden Rahmentheorien auskommen können.

5     Perspektiven

Das Konzept der Interdisziplinären Technikbildung zielt einerseits auf eine Verbesserung der Hochschullehre. Andererseits – und vielleicht noch mehr – versteht sich Interdisziplinäre Technikbildung als Allgemeinbildung, als Beitrag zur Selbstaufklärung der Gesellschaft über die Ambivalenz von Wissenschaft und Technik in spätmodernen (global-kapitalistischen) Wissensgesellschaften.

Das zeigt sich vielleicht nirgends so gut wie bei TA, die im Konzept der Interdisziplinären Technikbildung eine zentrale Rolle spielt. TA ist selbst Teil einer (Interdisziplinären Technik-)Bildung, eben Allgemeinbildung. Dies ist TA insbesondere dann, wenn sie über Beratung von Politik und Öffentlichkeit, über inhaltliche Fundierung und Unterfütterung gesellschaftlicher Diskurse, über partizipative Verfahren zur Reflexion und Revision, zur Aufklärung und Gestaltung über gesellschaftliche Zukünfte beiträgt. Diese neue, spätmoderne Reflexivität lässt Interdisziplinäre Technikbildung – als fachübergreifende Reflexionsform – auch in die Wissenschaft und ihre Communities vorrücken. Hier erreicht sie einen Ort größtmöglicher Gestaltungspotenziale.

Weitere Klärungen und Konkretisierungen sind freilich vorzunehmen; konzeptionelle Arbeit zur Stärkung und Stützung der Interdisziplinären Technikbildung ist gefragt.[8] Dabei ist vielleicht beachtenswert: Über Interdisziplinäre Technikbildung kann man nur interdisziplinär sprechen und streiten. Das setzt von den disziplinären Gesprächspartnern jeweils Reflexionsfähigkeit und Revisionsbereitschaft ihrer Disziplinen, ihrer Sozialisationen und Habitualisierungen voraus. Keine Einzeldisziplin mit ihren jeweiligen Fachkompetenzen kann in ihrem Zugriff auf „Interdisziplinäre Technikbildung“ Priorität beanspruchen.[9] In diesem unentgehbaren Zirkel – „Interdisziplinäre Technikbildung“ ist ein interdisziplinäres Thema – tritt nicht nur die methodische Problematik der Zirkularität auf, sondern es zeigt sich eine immanente Normativität und Politizität: Der Diskurs um Interdisziplinäre Technikbildung – und damit auch um die Rolle von TA als (gesellschaftliche Allgemein-)Bildung und als Kernbereich von Interdisziplinärer Technikbildung – ist ein Diskurs über das, was natur-, technik- und informationswissenschaftliche Bildung im 21. Jahrhundert sein soll. Dieser Diskurs wäre – jenseits von Exzellenzinitiativen, Innovationsprogrammen, Schlüsselqualifikationsdebatten – vertieft zu führen.

Anmerkungen

[1]  Involviert in das Projekt sind ferner: Richard Beecroft (Pädagogik), Martin Führ (Rechtswissenschaft), Bernd Steffensen (Soziologie), Urs Andelfinger (Informatik), Klaus Kasper (Informatik) und andere (alle Hochschule Darmstadt).

[2]  Siehe dazu Banse, Ropohl 2004 und Greif 2007.

[3]  Zur Theorie der TA siehe TATuP 16/1 (2007).

[4]  Siehe dazu Grunwalds Beitrag zu einer „Theorie der TA“ (Grunwald 2007), die TATuP-Diskussion zwischen Grunwald und Ropohl sowie die Arbeiten zur Grundlegung der RTA (z. B. Grunwald 1999).

[5]  Diese sind verbunden mit verschiedenen Adressatengruppen (Individual-, Sozial- und Institutionen-Zugang), mit unterschiedlichen Ethiktypen (deontologische, utilitaristische, Diskurs-, Tugend-, Gerechtigkeits-Ethiken) und mit einer Reihe differierender Prinzipien (Vorsorge-, Vorsichts-, Nichtreziprozitäts- / Reziprozitäts-, Gerechtigkeits-Prinzip u. a.).

[6]  Siehe http://www.unesco.org/en/esd/ (download 26.11.09).

[7]  Siehe https://www.upc.edu/eesd-observatory/who/declaration-of-barcelona (download 26.11.09).

[8]  Beispielsweise Banse, Ropohl 2004.

[9]  Zur Interdisziplinarität siehe Schmidt 2007.

Literatur

Appel, E. et al. (Hg.), 1998: Technikbewertung in der Lehre. VDI, Düsseldorf

Banse, G. et al. (Hg.), 2006: Erkennen und Gestalten. Eine Theorie der Technikwissenschaften. Berlin

Banse, G.; Reher, E.-O. (Hg.), 2004: Fortschritt bei der Herausbildung der Allgemeinen Technologie. Berlin, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 75

Banse, G.; Ropohl, G. (Hg.), 2004: Wissenskonzepte für die Ingenieurpraxis. VDI, Düsseldorf

Bröchler, S.; Schützeichel, R. (Hg.), 2007: Politikberatung. Ein Handbuch für Studenten und Wissenschaftler. Stuttgart

Euler, P., 1999: Technologie und Urteilskraft. Weinheim

Fagerberg, J. et al. (Hg.), 2005: The Oxford Handbook of Innovation. Oxford

Greif, M. (Hg.), 2007: Das Berufsbild Ingenieurinnen und Ingenieure im Wandel. Düsseldorf

Grunwald, A. (Hg.), 1999: Rationale Technikfolgenbeurteilung. Konzeption und methodische Grundlagen. Berlin

Grunwald, A., 1996: Ethik der Technik. Systematisierung und Kritik vorliegender Entwürfe. In: Ethik und Sozialwissenschaften 7/2-3 (1996), S. 191–204

Grunwald, A., 2000: Handeln und Planen. München

Grunwald, A., 2002: Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung. Berlin Grunwald, A., 2007: Auf dem Weg zu einer Theorie der Technikfolgenabschätzung: der Einstieg – Einführung in den Schwerpunkt. Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 16/1 (2007), S. 4–17

Hackett, E.J. et al. (Hg.), 2008: The Handbook of Science and Technology Studies. Cambridge, MA

Hubig, C. et al. (Hg.), 2001: Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie. Berlin

Hubig, C., 2006: Die Kunst des Möglichen. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld

Hubig, C.; Reidel, J. (Hg.), 2003: Ethische Ingenieurverantwortung. Berlin

Lenk, H.; Ropohl, G. (Hg.), 1987: Technik und Ethik. Stuttgart

Lepenies, W., 1997: Benimm und Erkenntnis. Frankfurt

Nordmann, A., 2008: Technikphilosophie. Hamburg

Ropohl, G., 1979: Eine Systemtheorie der Technik. München

Ropohl, G., 1996: Ethik und Technikbewertung. Frankfurt

Schmidt, J.C., 2007: Towards a Philosophy of Interdisciplinarity. In: Poiesis & Praxis 5/1 (2007), S. 53–71

Schmidt, J.C.; Gehrlein, U., 2002: Perspektivenwechsel Interdisziplinärer Technikforschung. In: Krebs, H. et al. (Hg.): Perspektiven Interdisziplinärer Technikforschung. Münster, S. 15–40

Shephard, K., 2008: Higher education for sustainability. In: International Journal of Sustainability in Higher Education 9/1 (2008), S. 87–98

Weyer, J. et al., 1997: Technik, die Gesellschaft schafft. Berlin

Wolffgramm, H., 1978: Allgemeine Technologie. Leipzig

Wright, G.H. v., 1991: Erklären und Verstehen. Frankfurt

Kontakt

Prof. Jan C. Schmidt
Hochschule Darmstadt
Haardtring 100, 64295 Darmstadt
Tel.: +49 61 5116-8742
E-Mail: jan.schmidt∂h-da.de