Rezensionen
J. Weyer: Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung soziotechnischer Systeme
Techniksoziologie für den Lehrbetrieb
J. Weyer: Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung soziotechnischer Systeme. Weinheim: Juventa, 2008, 323 S., ISBN 978-3779914853, € 23,00
Rezension von Cornelius Schubert, TU Berlin
Die Anzahl techniksoziologischer Lehrbücher ist überschaubar. Da freut man sich, wenn ein neues hinzukommt und ist gespannt auf die Sortierung und Darstellung des Feldes. Und man stellt sich die Frage, ob man dieses Buch Studierenden des ersten Semesters mit gutem Gewissen als Grundlagentext empfehlen kann. Um es vorweg zu nehmen, man kann, wenn auch mit Einschränkungen. Die Einschränkungen resultieren aus den notwendigen Selektionen des Autors, im Normalumfang eines Buches zwischen breiten Überblicken und thematischen Zuspitzungen zu balancieren. Was also steckt drin, und was nicht? Johannes Weyer gibt im Vorwort selbst die Antwort: Er werde sich auf das Themenfeld „Technik und Gesellschaft“ beschränken und wolle beim Leser Interesse für das Wechselverhältnis von technischem und sozialem Wandel wecken.
1 Die Soziologie der Technik
Lehrbücher müssen präzise, knapp und v. a. verständlich geschrieben sein. Sie ermöglichen eine „Stippvisite“ und geben Orientierung in einem unbekannten Feld. Weyer kartiert die Techniksoziologie in 11 Kapiteln, mit Personen- und Sachregister. In den ersten sechs Kapiteln legt Weyer das Fundament einer soziologischen Betrachtung technischer und gesellschaftlicher Wechselbeziehungen. Die Einstiegshöhe der soziologischen Auseinandersetzung ist so gewählt, dass auch (Nebenfach-)Studierende anderer Disziplinen problemlos mitkommen können.
Kapitel 1 startet mit einer Diskussion der „technischen Zivilisation“. Das überzeugt aus zwei Gründen. Die technische Bedingtheit (moderner) Gesellschaften bietet erstens die Möglichkeit, die Relevanz des Themas durch Alltagsbezüge für einzelne Studierende und über Disziplingrenzen hinweg darzustellen. Zweitens leistet der historische Abriss den nötigen Verfremdungseffekt, um die Kontingenzen der technischen Zivilisation für diejenigen aufzuzeigen, für die das Leben in der verkehrs- und kommunikationstechnisch vernetzen Welt unhinterfragter Alltag ist.
In den Kapiteln 2 bis 6 konstruiert Weyer die soziologische und historische Klammerung der technischen Zivilisation. In Kapitel 2 fragt er zuerst, was denn überhaupt Soziologie sei und weist die bekannte Dichotomie von Technik- und Sozialdeterminismus auf. Weyer nutzt dies für eine zweite notwendige Verfremdung. Die Identität der Techniksoziologie speist sich zum Teil aus der eigenartigen „Technikvergessenheit“ der Soziologie. Eigenartig deshalb, weil zwar in den geläufigen Sozialtheorien Technik nicht systematisch aufgenommen wird, nichts desto trotz aber ein fester Bestandteil der Gesellschaftsanalyse, von den Klassikern bis heute, ist. Das Problem eines Lehrbuchs besteht nun darin, an die Bedeutung der Technik für das Soziale zu erinnern, ohne jedoch Kenntnisse in Soziologie voraussetzen zu können. Lehrbücher für niedrige Semester sind sich damit oftmals selbst einen Schritt voraus und Weyer will zuerst neugierig auf Soziologie machen, um anschließend das Interesse für Techniksoziologie und einen soziologischen Technikbegriff wecken zu können.
Er tut dies in Kapitel 3 und 4. Um das Anliegen der Soziologie zu verdeutlichen, zeichnet Weyer im dritten Kapitel die soziologische Technikkritik von Schelsky, Horkheimer / Adorno und Habermas in ihren Übereinstimmungen und Unterschieden nach. Die teils ungelenk anmutenden Zugriffe auf Technik erklärt Weyer unter Berücksichtung der jeweiligen Theoriekonstruktion und politischen Agenda. Die Auswahl der Autoren erklärt sich aus diesem Grund auch eher aus ihrer generellen Bedeutung für die Soziologie, als ihrem spezifisch techniksoziologischen Beitrag. Gleiches gilt für das vierte, der Systemtheorie Luhmanns gewidmete Kapitel. Deren Verortung der Technik außerhalb von sozialen Systemen zwingt Weyer zu einer tieferen soziologischen Diskussion als in den bisherigen Kapiteln. Luhmanns umständliche Formulierungen werden auf ihren Gehalt für die Techniksoziologie abgeklopft und nach Weyers Analyse bleibt recht wenig davon übrig – und das was sich eignet (Luhmanns Risikosoziologie), ist dann auch noch handlungstheoretisch begründet.
Sehr viel greifbarer ist die Darstellung der Epochen der Technikgeschichte, die in Kapitel 5 unter Bezug auf Popitz rekonstruiert werden. Hier zeigen sich erste Ansätze, die Wechselwirkung von technischen und sozialen Entwicklungen als gleichzeitige Aspekte der technischen Zivilisation zu verstehen. Weyer kritisiert Popitz’ selektive Lesart der Technikgeschichte und kompensiert diese in Kapitel 6 mit einer differenzierteren Betrachtung. Im Zentrum stehen dabei die gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Renaissance und die nachfolgende Verknüpfung von Wissenschaft und Technik, die die technologische Revolution um die Wende zum 19. Jahrhundert überhaupt erst ermöglichten. Nach Beendigung dieses Kapitels befindet man sich in der Mitte des Buches und weiß um die Probleme der Soziologie im Umgang mit Technik und warum Technik für das Verständnis von Gesellschaft unumgänglich ist. Weyer macht sich nun daran, die Wechselwirkung von Technik und Gesellschaft genauer unter die Lupe zu nehmen. In den folgenden fünf Kapiteln erhält der Untertitel des Lehrbuchs, die „Genese, Gestaltung und Steuerung soziotechnischer Systeme“, besondere Aufmerksamkeit.
2 Innovation und soziotechnische Systeme
Kapitel 7 und 8 wenden sich der soziologischen Erklärung technischer Entwicklungen zu. Am Begriff der Innovation kritisiert Weyer simple ökonomische Modelle des technischen Wandels und zeigt die Wahlverwandtschaften soziologischer und ökonomischer Innovationsforschung auf. Das achte Kapitel widmet sich dem Thema der Technikgeneseforschung. Eingeleitet durch einen kurzen Abschnitt zu den wissenschaftlichen Ursprüngen der Techniksoziologie betritt der Leser durch die soziologischen Ansätze zur Technikgenese nun die „inneren Hallen“ der Techniksoziologie und hat am aktuellen Stand der Diskussionen Teil. Hier wechselt Weyer die Rolle vom Beobachter zum Beteiligten, was beim Lesen etwas befremdlich, aber in der Darstellung des Gebietes nur ehrlich ist.
Weyer entscheidet sich, in den Kapiteln 9, 10 und 11, techniksoziologische Detailfragen nicht weiter zu verfolgen, sondern spezifische techniksoziologische Zugriffe auf drei Herausforderungen der technischen Zivilisation im 21. Jahrhundert zu benennen: Im neunten Kapitel sind es die technischen Risiken und deren gesellschaftliche Beherrschung, im zehnten die smarte Technik und hochautomatisierte Systeme und schließlich im elften die Fragen der Technikpolitik und Techniksteuerung. In diesen Kapiteln stehen die Grenzen der Beherrschung und Steuerung von Technik im Zentrum. Insbesondere der Umstand, dass sich moderne Technik in vielerlei Hinsicht einem schlichten Planungszugriff entzieht, fügt der im ersten Teil vorgebrachten Technikkritik neue Aspekte hinzu. Die scheinbar unvermittelte Wucht technikinterner Rationalität löst sich in der Darstellung der Vielschichtigkeit sozialer und technischer Wechselbeziehungen, ohne in die Beliebigkeit voluntaristischer Ansätze abzugleiten.
Einfache Zweck-Mittel-Verhältnisse reichen weder zum Verständnis sozialer Logiken noch zu dem technischer Logiken oder gar ihrer Wechselwirkung. Daher gewinnt die Akteursperspektive in den letzen fünf Kapiteln an Relevanz. Stand das Individuum bei Schelsky, Horkheimer / Adorno und Habermas noch ohnmächtig der Technik gegenüber, so rückt es mit der Innovationsforschung und der Analyse soziotechnischer Systeme stärker ins Zentrum. Obwohl das Lehrbuch auf der Ebene der Gesellschaft ansetzt, finden sich hier die notwendigen Mikrofundierungen der Techniksoziologie.
3 Was fehlt?
Abgesehen davon, dass es nicht in Weyers Absicht lag, ein umfassendes Kompendium vorzulegen, reizt der allgemeine Titel „Techniksoziologie“ doch dazu, auf die weißen Flecke seiner Kartierung hinzuweisen. Als erstes vermisst man – auch von Weyer eingestanden – die tiefere Diskussion von Sozialtheorie und Technik. Die Auseinandersetzung der Techniksoziologie mit ihrer Mutterdisziplin ist ein spannungsreiches Feld und nicht zuletzt seit den teils polemischen Angriffen Latours auf die Soziologie auch über die Grenzen der Techniksoziologie hinaus bekannt. Zweitens wünscht man sich nach dem Schwerpunkt Technik und Gesellschaft mehr soziologische Aufklärung über die Mikroebene von Technik und Interaktion. Weyer verweist zwar auf die notwendige Hereinnahme der Akteursperspektive, techniksoziologische Konzepte zum Umgang mit Artefakten bleibt er aber weitgehend schuldig. Drittens kommt der Bereich Technik und Alltag so gut wie nicht vor. Zwar zeigt er die technische Bedingtheit fast all unserer Lebensbereiche in der technischen Zivilisation auf, aber diese Durchdringung wird letztendlich allein für die Risiken von Hochtechnologien und die Möglichkeiten avancierter Technik diskutiert. Viertens hätte die systematische Aufnahme der Bedeutung aktueller Theoriediskussionen für die Techniksoziologie das Bild abgerundet. Und fünftens wäre eine Einordnung in die diffuse Landschaft der internationalen Science and Technology Studies hilfreich. Würde man die von Weyer ausgesparten weißen Flecken derart füllen, bliebe von einem Lehrbuch für Einsteiger allerdings nicht viel übrig.
4 Fazit
Wer das Buch liest, erfährt viel über Technik und Soziologie. Sozialwissenschaftler, die sich erstmals mit dem Thema beschäftigen wollen, finden hier die Grundlinien der soziologischen Diskussion und einen reichen Schatz an Anwendungsbeispielen. Wer mit dem Thema schon vertraut ist, findet Anregungen in Kapitel 7 und 8. Es stellt sich die abschließende Frage, welchen Nutzen das Buch für die eigentliche Zielgruppe der Studienanfänger hat und wie es in der Lehre eingesetzt werden kann.
Für Studienanfänger und Wissenschaftler anderer Disziplinen ist das Buch zuerst einmal eine Einladung zur Soziologie überhaupt. Diese Einladung beschönigt nichts, sondern fordert eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Technik und Gesellschaft. Umfang und Lesbarkeit der einzelnen Kapitel erlauben, sie als Grundlagentexte für Seminardiskussionen zu nutzen. Auch Weyers Akzentsetzungen und kritische Diskussionen sowie die pointierten Zusammenfassungen innerhalb der Kapitel bieten Anknüpfungspunkte für eine fruchtbare Beschäftigung – sowohl im Seminar als auch beim Nachlesen zu Hause. Will man das Buch in der Lehre einsetzen, so muss man sich entscheiden, ob man dem Weyerschen Weg ganz folgt und die Dramaturgie des Bandes übernimmt, die sich ja ihrerseits an der Dramaturgie einer Vorlesung orientiert. Vermutlich möchte aber jeder Dozent eigene Akzente setzen. Dann bietet Weyers Einstieg über die technische Zivilisation, ihre geschichtliche Rekonstruktion, aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und deren soziologische Reflexion wohl den besten Ansatzpunkt, sich aus den diversen Kapiteln des Buchs die passenden Stücke herauszusuchen und mit selbst gewählten Texten zu kombinieren.
Nicht zuletzt muss sich das Buch im Nutzungskontext bewähren, also als Grundlage für Seminare und als Vorbereitung für Prüfungen.
Seine Stärke als Lehrbuch wird darin liegen, das Feld für die Studierenden zu sortieren und die soziologisch relevanten Fragen hinter den vielfältigen Fallbeispielen aufzuzeigen. Auf eine Hinzunahme von Originaltexten wird man in der Lehre dennoch kaum verzichten können.