Lernen aus Katastrophen. Nach den Unfällen von Harrisburg, Seveso und Sandoz (von G. Banse)

Rezensionen

Zusammenbruch der Gewissheiten

M. Hofmann: Lernen aus Katastrophen. Nach den Unfällen von Harrisburg, Seveso und Sandoz. Berlin: edition sigma, 2008, 416 S., ISBN 978-3-89404-559-3, € 27,90

Rezension von Gerhard Banse, ITAS

„Katastrophen sind selten“, schrieb vor über 20 Jahren der US-amerikanische Organisationssoziologe Charles Perrow, um fortzufahren, dass man jedoch „daraus wenig Trost beziehen“ könne (Perrow 1989, S. 13). Wenn man aus der Seltenheit von Katastrophen zwar keinen Trost (im Sinne von Ermutigung) beziehen kann, so ist es berechtigt zu fragen, ob man aus ihnen (wenigstens) lernen kann.[1] Wenn das bejaht wird, ist weitergehend zu fragen, ob aus Katastrophen tatsächlich gelernt wird bzw. unter welchen Bedingungen die Möglichkeit, aus Katastrophen zu lernen, zur Wirklichkeit wird. Lernen sei dabei als Prozess einer relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, Denkens oder Fühlens infolge neuer Erfahrungen oder Einsichten verstanden. Vermitteln nun Katastrophen soviel neue Erfahrungen bzw. Einsichten, dass daraus stabile Veränderungen beispielsweise des Verhaltens oder des Denkens resultieren können?

Die Antwort muss nicht unbedingt „Ja“ sein, wenn etwa davon ausgegangen wird, dass Katastrophen nicht nur selten, sondern in ihrer je konkreten Art und Weise (etwa hinsichtlich Verursachung, Ablauf und Folgen) wohl einmalig sind und deshalb kaum verallgemeinerbare Einsichten vermitteln können, die auf andere Situationen oder Konstellationen übertragbar sind. Andererseits muss die Antwort nicht unbedingt „Nein“ sein, wenn etwa bedacht wird, dass Katastrophen „Gewissheiten“ infrage stellen, Abhängigkeiten sichtbar machen, die bislang in dieser Weise unbekannt waren, dann aber – ex post – bekannt sind und nun berücksichtigt werden können. (Auch wenn zwei Katastrophen selbst nie identisch sind, können sie doch vergleichbare Ursachen und Wirkungen aufweisen.)

Vor diesem Hintergrund ist die rezensierte Publikation zu werten, der die im Jahre 2007 vom Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin angenommene Dissertation des Verfassers zugrunde liegt. Die leitende Fragestellung bezieht sich auf den Einfluss technischer Katastrophen auf politische Lernprozesse im Bereich der Technikentwicklung und Risikoregulation: „Welche nachkatastrophalen Lernprozesse werden von großen Industriekatastrophen angestoßen? Wie weit reichend ist dieses Lernen? Welche Faktoren befördern solche Lernprozesse, welche behindern sie?“ (S. 21). Matthias Hofmann unternimmt den Versuch, diese Fragen anhand der Analyse dreier prominenter Großunfälle aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beantworten: der Reaktorkernschmelze von Harrisburg 1979, der Dioxinkatastrophe von Seveso 1976 und des Chemielagerbrands von Basel 1986.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung zum gesellschaftlich-politischen Lernen aus Großunfällen sind ernüchternd. Insgesamt wiesen diese Lernprozesse eine eher geringe Qualität auf. Grundsätzliche fänden sich im Nachgangder Katastrophen keine echten Änderungen im Institutionensystem der Industriestaaten. „In allen Fällen kam es zwar zu weit reichenden,aber größtenteils reformatorischen Änderungen am jeweiligen Institutionensystem. […] Die Rahmenbedingungen, unter denen die relevanten Akteure im Bereich der Hochrisikotechnologien handeln, wurden eher marginal modifiziert.“ (S. 382)

Der Weg von der Untersuchungsfragestellung zum -ergebnis erfolgt in elf Kapiteln, die zugleich die Untersuchungsschritte widerspiegeln:[2]

  1. „Die vergessenen Katastrophen“ (S. 19) – dargestellt werden Motivation, Ziel und Struktur der Analyse;
  2. „Risikoproduktion – Ein typisches Phänomen moderner gesellschaftlicher Systeme“ (S. 29) – identifiziert und charakterisiert werden konkrete Rahmenbedingungen bzw. „Treiber“ (S. 23) für katastrophenträchtige technische Entwicklungen;
  3. „Der Riss in der Konstellation: die Katastrophe“ (S. 47) – der Katastrophenbegriff wird für die weitere Untersuchung fundiert und als Eskalation von Unsicherheiten verortet;[3]
  4. „Gesellschaftliche und politische Lernprozesse“ (S. 55) – Lernen wird (gemessen an bestimmten Kriterien) als Änderung von Deutungsmustern und tatsächlich stattfindenden Politikprozessen verstanden;
  5. „Der Ansatz des Akteurszentrierten Institutionalismus“ (S. 65) – erläutert wird der methodische Ansatz, der aus sozialwissenschaftlicher Perspektive im sogenannten akteurszentrierten Institutionalismus besteht,[4] eingeschlossen darin ist eine ausführliche Begründung für die Auswahl der Fallstudien (S. 74ff.);
  6. „Three Miles Island: eine Kernschmelze als Zäsur in der Atompolitik“ (S. 103);
  7. „Seveso: die Chemiekatastrophe als Katalysator der kritischen Fortschrittsdebatte“ (S. 201);
  8. „Der Brand in Schweizerhalle: Kurskorrekturen nach dem ökologischen Zusammenbruch eines europäischen Flusssystems“ (S. 279);
  9. „Tendenzen der postkatastrophalen Entwicklung“ (S. 345) – diese werden einerseits an der Singularität der drei betrachteten Fälle, andererseits am Handeln lokaler Akteure während und nach der Katastrophe herausgearbeitet;
  10. „Nachhaltiges Lernen aus katastrophalen Entwicklungen“ (S. 359) – beschrieben werden mit Bezug zu (2) und (4) Lerner-folge hinsichtlich „Im Zweifel gegen den Zweifel…“, „Risikoproduktion als Markt“, „Sicherheit als Stille Reserve“ sowie „Soziotechnische Strukturen der Großtechnik“;
  11. „Die unbeeindruckte Industriegesellschaft“ (S. 381) – es werden ein kurzes Fazit gezogen und einige Vorschläge unterbreitet.

Während die Kapitel (1) bis (5) und (9) bis (11) einerseits der konzeptionellen und methodischen Grundlegung sowie andererseits der Systematisierung und Interpretation der Ergebnisse dienen, bilden Kapitel (6) bis (8) sozusagen den empirischen Teil der Untersuchung, die Analyse der drei ausgewählten Katastrophen. Die einzelnen Fälle werden in analoger Weise material-und umfangreich nachgezeichnet. Dabei gibt der Autor am Anfang jeweils eine Einführung in die Rahmenbedingungen und die lokale Genese des Politikfelds, dem folgt eine kurze Beschreibung der technischen Anlage (Atomreaktor, Trichlorphenol-Synthesereaktor, Lagerhalle). Danach erfolgt eine chronologische Darstellung des Unfallgeschehens. Breiten Raum nehmen dann Darlegungen zu den Positionen relevanter Akteure während und vor allem nach der Katastrophe unter den gegebenen Rahmenbedingungen ein. Abschließend werden die jeweiligen Untersuchungsergebnisse komprimiert dargestellt. Auf diese Weise wird dem Leser eine beeindruckende Fülle an Erkenntnissen über bzw. Einsichten in die ausgewählten Katastrophen geboten.

Der Autor ist sich der Schwierigkeiten seines methodischen Ansatzes hinsichtlich Vergleichbarkeit bzw. Verallgemeinerbarkeit der aus der Untersuchung von drei singulären Ereignissen gewonnenen Erkenntnisse durchaus bewusst: „[…] entscheidend sind nicht Generalisierungen bezüglich singulärer Beziehungen, sondern die Erfassung der internen Dynamik einer Konstellation, und die Beschreibung und Erklärung der dort ablaufenden Prozesse […]. Es geht also nicht um Relationen zwischen Ereignissen, sondern um Aussagen zu komplexeren Dynamiken“ (S. 98) – und die sind für den Rezensenten nachvollziehbar.

Aus wissenschafts- bzw. wissenstheoretischer Sicht ordnet sich die vorliegende Arbeit in die sich mehrenden Untersuchungen zu „Nichtwissen“ und „Unsicherheit“ ein,[5] die einen Wechsel der Perspektive (des Paradigmas) hinsichtlich „Sicherheits- und Eindeutigkeitsversprechen von Wissenschaft und Technik“ (Bonß 1995, S. 22) darstellen. Gleichzeitig hat sich im politischen Denken der Fokus einerseits von „Technik inhärenten“ Ursachen für Katastrophen auf „externe“ Verursachungen wie die organisierte Kriminalität oder – vor allem nach „nine eleven“ – den Terrorismus gerichtet. Andererseits werden technische Anlagen zunehmend als sogenannte „kritische Infrastrukturen“ betrachtet. Das hat dazu geführt, dass die Thematisierung von Nebenfolgen technologischer Großsysteme mehr als 20 Jahre nach dem letzten der im vorliegenden Buch untersuchten Unfälle weitgehend wieder von der politischen Agenda verschwunden ist. Eine verlässliche und nachhaltige Methodik, wie politisches „Lernen aus Katastrophen“ gewährleistet werden könnte, ist nach wie vor ein Desiderat. So bleibt – trotz nationaler und internationaler Sicherheitsforschungsprogramme – mit dem Verfasser der lesenswerten Studie zu wünschen, „dass die bestimmenden Akteure der Industriesysteme die Risikofreudigkeit, die sie immer wieder bei der Einführung neuer Technologien und Produktionssysteme an den Tag legen […], in Zukunft auch bei der Entwicklung institutioneller Designs zur bewussteren Steuerung der Folgen aufbringen“ (S. 384). Das wäre (auch) ein Beitrag in Richtung der von der Bundespolitik geforderten neuen Sicherheitskultur.[6]

Anmerkungen

[1]  Die kursive Hervorhebung von man soll andeuten, dass damit unterschiedliche Akteure bzw. Subjekte aus unterschiedlichen Gebieten erfasst sind, z. B. Individuen, Gruppen, Gemeinschaften aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft.

[2]  Ein Prolog (S. 17), 15 Abbildungen, 10 Tabellen und fast 30 Seiten Literaturangaben (S. 385–412) komplettieren das Buch.

[3]  Zum Verständnis von Katastrophen, vor allem deren medialer „Entfaltung“, sei exemplarisch auf Drux, Kegler 2007 verwiesen.

[4]  „Der akteurszentrierte Institutionalismus geht grundsätzlich davon aus, dass politische Prozesse von staatlichen, kollektiven und korporativen Akteuren getrieben werden, die in einem handlungsleitenden institutionellen Umfeld interdependent agieren.“ (S. 65)

[5]  Vgl. dazu aus unterschiedlichen disziplinären Sichten etwa Gamm 2000 und Wehling 2006 (einschließlich der Rezension Büscher 2008 mit dort genannter Literatur)

[6]  Vgl. „Forschung für die zivile Sicherheit: Gesellschaftliche Dimensionen“; http://www.forschung.bmbf.de/de/12654.php (download 8.5.09)

Literatur

Bonß, W., 1995: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburg

Büscher, Chr., 2008: Das Leck im Labor und die Politisierung des Nichtwissens. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Nr. 17/3 (2008), S. 98–101

Drux, R.; Kegler, K.R. (Hg.), 2007: Entfesselte Kräfte. Technikkatastrophen und ihre Vermittlung,Inklings Jahrbuch für Literatur und Ästhetik, Bd. 25, Moers

Gamm, G., 2000: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Frankfurt a. M.

Perrow, Ch., 1989: Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt a. M., New York (engl. Original New York 1984)

Wehling, P., 2006: Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens. Konstanz