Mikroenergie-Systeme zur dezentralen nachhaltigen Energieversorgung in strukturschwachen Regionen

TA-Projekte

Mikroenergie-Systeme zur dezentralen nachhaltigen Energieversorgung in strukturschwachen Regionen

Ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg geht neue Wege

von Martina Schäfer, TU Berlin

Die Hans-Böckler-Stiftung fördert ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg, das sich in acht Promotionsarbeiten mit Mikroenergie-Systemen beschäftigt. Damit wird der Problematik Rechnung getragen, dass bis heute weltweit über 1,6 Milliarden Menschen in Entwicklungsländern keinen Zugang zu einer Energieversorgung haben, die die Gesundheit der Nutzer und Nutzerinnen und die natürlichen Ressourcen nicht gefährdet (World Bank Group 2005). Aufgrund der steigenden Bedeutung dieses Themas – auch für die Energieversorgung in Industrieländern – hat das Graduiertenkolleg das Ziel, Strategien, Programme und Instrumente zur Entwicklung und nachhaltigen Implementierung von Mikroenergie-Systemen in Industrie- und Entwicklungsländern zu untersuchen. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit soll gewährleistet werden, dass der Fokus nicht allein auf der Technikentwicklung liegt, sondern dass das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik im gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen und politischen Kontext in den Blick genommen wird. Hierbei ist für alle Vorhaben die Betrachtung sowohl der regionalen als auch der globalen Ebene sowie ihrer Wechselwirkungen von Bedeutung. Darüber hinaus wird angestrebt, die Erkenntnisse des Kollegs systematisch zu integrieren, um das in den verschiedenen Forschungsbereichen produzierte Wissen zusammenzuführen und die Übertragbarkeit auf unterschiedliche lokale Bedingungen zu sichern.

1     Energieversorgung in Entwicklungs- und Industrieländern

In Entwicklungsländern stellt sich besonders für Haushalte und Gewerbe mit geringem Energiebedarf und wenig finanziellem Spielraum die tägliche Versorgung mit fossilen Energieträgern angesichts steigender Öl- und Gaspreise zunehmend schwierig dar. Die Verknappung von nachwachsenden Rohstoffen (wie z. B. Holz) trägt ebenfalls dazu bei, dass viele Haushalte ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Licht, Wärme und Strom nur zu vergleichsweise hohen Kosten befriedigen können. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass gerade in den strukturschwachen Regionen der Entwicklungsländer ein enormes ökonomisches und technisches Substitutionspotenzial für effiziente dezentrale Energiesysteme – sog. Mikroenergie-Systeme – besteht (Prasad 2005). Aus der Perspektive nachhaltiger Entwicklung und einer Suche nach langfristigen Alternativen sind dabei insbesondere solche Systeme von Interesse, die auf der Basis von erneuerbaren Energieträgern betrieben werden.

Obwohl sich Art und Umfang der Energieversorgung in Industrieländern stark von denen in Entwicklungsländern unterscheiden, wirken sich die weltweit steigenden Öl- und Gaspreise auch hier belastend auf die tägliche Bedarfsdeckung mit Energie aus. In den vom Öl geprägten Wirtschaftsstrukturen betrifft dies neben finanzschwachen Haushalten insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen sowie landwirtschaftliche Betriebe, die neben Strom und Wärme große Mengen an Kraftstoff benötigen. Ein zunehmender Bedarf an neuen Energieversorgungsansätzen entwickelt sich außerdem vor dem Hintergrund veränderter Siedlungstypen in Europa: Wachsenden Regionen stehen zunehmend schrumpfende Regionen – z. B. im Osten Deutschlands – gegenüber. Diese perforierten Siedlungsräume haben bereits heute Probleme, Infrastrukturleistungen zu bezahlbaren Preisen vorzuhalten, zum Teil haben sie auch mit überalterten oder überdimensionierten Versorgungssystemen zu kämpfen. Auch in den betroffenen strukturschwachen Regionen Europas ist somit der Zugang zu erneuerbaren Energien bzw. energieeffizienter Technologie von zunehmender Bedeutung, wobei hier zusätzlich Aspekte wie die Erzeugung klimafreundlicher Energie und die Erprobung basisdemokratischer, partizipativer Ansätze eine stärkere Rolle spielen.

2     Das interdisziplinäre Verständnis von Mikroenergie-Systemen

Das Graduiertenkolleg hat sich disziplinenübergreifend ein gemeinsames Verständnis von Mikroenergie-Systemen erarbeitet, was aufgrund der Heterogenität der eingesetzten Technologien, Betreibersysteme sowie institutionellen und räumlichen Ausgangsbedingungen allerdings eine große Herausforderung darstellt.[1]

Unter einer Mikroenergie-Anlage wird eine kleine und dezentral einsetzbare Energiewandlungseinheit verstanden, die eine räumliche Kopplung zwischen Energiebedarf und -bereitstellung ermöglicht. Ein Mikroenergie-System stellt ein dezentrales Energiesystem basierend auf Mikroenergie-Anlagen dar, das eine Energieversorgung für Haushalte oder Kleingewerbe bereitstellt und in dem die Energiebereitstellung räumlich gesehen an den Bedarf gekoppelt ist. Dabei können den Mikroenergie-Systemen unterschiedliche Technologien zugrunde liegen, die in ihrer Komplexität sehr unterschiedlich sind. Die im Rahmen des Kollegs betrachteten Mikroenergie-Systeme basieren auf verschiedenen Technologien, die von Kochherden und sogenannten „Solar-Home-Systemen“ über Dieselgeneratoren bis zu Windkraft-, Wasserkraft- und Bioenergie-Anlagen sowie MikroKraft-Wärme-Kopplungsanlagen reichen.

Das Mikroenergie-System ist zunächst Bestandteil des Energiesystems, also des Systems, in dem Energie genutzt und verfügbar gemacht wird. Dies umfasst neben dezentralen Systemen in der Regel auch ein netzgebundenes zentrales Energieversorgungssystem.

Weiterhin wird ein Mikroenergie-System als eingebettet in das gesellschaftliche Gesamtsystem verstanden, wenn es in die TeilsystemeÖkologie, Ökonomie, Soziales und Politik gegliedert werden kann. Das im Kolleg zugrunde gelegte Verständnis von Technik als ein Element in heterogenen Konstellationen lehnt sich an aktuelle Entwicklungen der Techniksoziologie und der Technikfolgenabschätzung an (Rammert 2003). Hierbei wird davon ausgegangen, dass die im Zuge der funktionalen Differenzierung erfolgte isolierte Entwicklung von Technik und technischen Innovationen in ihrer Verselbstständigung mit nicht intendierten Nebenfolgen resultierte. Die Brisanz dieser Nebenfolgen, die mit der Diskussion des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung aufgegriffen wird, verdeutlicht die Notwendigkeit der Einbettung von technischen Innovationen in einen umfassenden Naturzusammenhang (Retinität), die Gesellschaft, und die politische Struktur (Majer 2002). Jede Trennung von Technik und Gesellschaft produziert Einseitigkeiten und Schieflagen (Fleischer, Grunwald 2002).

3     Thesen und Fragestellungen des Graduiertenkollegs

Angelehnt an das Verständnis von Mikroenergie-Anlagen als Systeme, die sich in komplexen Wechselwirkungen mit den umgebenden sozioökonomischen, ökologischen und institutionellen Bedingungen sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene befinden, werden in dem Graduiertenkolleg Fragestellungen behandelt, die über die Entwicklung oder Optimierung von Technologien hinausgehen. Dabei wird in allen Promotionsvorhaben davon ausgegangen, dass eine erfolgreiche Implementierung von technischen Innovationen, wie Mikroenergie-Systemen, nur möglich ist, wenn gleichzeitig die Wechselwirkungen mit den anderen Elementen der soziotechnischen Konstellation berücksichtigt werden. Die verschiedenen Promotionsarbeiten setzen allerdings unterschiedliche Schwerpunkte in der Analyse der relevanten Faktoren oder Beziehungsmuster für eine Ausweitung von Mikroenergie-Systemen in Industrie- und Entwicklungsländern.[2] Abbildung 1 verdeutlicht die Struktur des Graduiertenkollegs und die Beziehungen der Teilprojekte untereinander.

Abb. 1: Struktur des Graduiertenkollegs Mikroenergie-Systeme

Quelle: Eigene Darstellung

Hinsichtlich der Situation in Entwicklungsländern werden vom Graduiertenkolleg die seit den 1990er Jahren in der Entwicklungsarbeit formulierten Ziele der Armutsbekämpfung und der Förderung nachhaltiger Entwicklung aufgegriffen (OECD 1996; World Bank, IMF 1999). Von vielen internationalen Organisationen und Institutionen wird angenommen, dass dezentrale Energiesysteme einen wesentlichen Beitrag zu diesen Zielen leisten können, da sie positive Effekte für die Lebensqualität der Bewohner strukturschwacher ländlicher Regionen und für die Schaffung von zusätzlichen Einkommensmöglichkeiten mit sich bringen. Da bisher keine systematischen empirischen Erkenntnisse darüber vorliegen, inwieweit verschiedene Modelle der Mikroenergie-Versorgung tatsächlich zu einer Armutsreduktion betragen, wird dieser Frage in einer der Promotionen nachgegangen. Dabei wird davon ausgegangen, dass arme Bevölkerungsgruppen nur bei einer Optimierung des komplexen Zusammenspiels der ausgewählten Technologie, dem praktizierten Betreibermodell, einer partizipativen Implementation der Technologie und unterstützenden Rahmenbedingungen tatsächlich von Mikroenergie-Systemen profitieren können. Der mangelnde Einbezug der Nutzer- und Nutzerinnenperspektive, steht in einem zweiten Vorhaben im Vordergrund, das hierin einen wesentlichen Grund für das Scheitern vieler Projekte der Einführung von Mikroenergie-Systemen sieht.

Eine weitere Promotion zum Thema Entwicklungsarbeit beschäftigt sich mit Qualitätsstandards für Mikroenergie-Systeme und greift dabei Mikrofinanzinstitutionen in ihrer Bedeutung als rahmende institutionelle Regelsysteme auf, die entsprechende Standards für die Implementation dieser Technologien setzen können. In einer vierten Arbeit werden dezentrale „Good-Practice“-Modelle, die auf der energetischen Nutzung von Pflanzenölen basieren, mit zentralen Ansätzen der Energieversorgung hinsichtlich der erzielten Energieeffizienz, der ökonomischen Rentabilität und der verwirklichten lokalen Wertschöpfungspotenziale verglichen. Die fünfte Arbeit, die sich mit der Energieversorgung in Entwicklungsländern beschäftigt, möchte das energietechnische und -wirtschaftliche Potenzial von Mikroenergie-Systemen in Entwicklungsländern exemplarisch kartieren, um entsprechende Entscheidungen wirtschaftlicher und politischer Akteure zu erleichtern.

In Bezug auf die Situation in Industrieländern beschäftigen sich zwei Arbeiten mit der Verbreitung von Anlagen zur Gewinnung von Energie aus Biomasse in strukturschwachen ländlichen Regionen. Die erste Arbeit setzt ihren Schwerpunkt auf die Analyse der Potenziale, Hemmnisse und Wirkungszusammenhänge der Implementierung dieser Technologie und möchte zentrale Synchronisationsbedarfe identifizieren. Die zweite Arbeit untersucht die Frage, wie Bioenergieanlagen dazu beitragen können, landwirtschaftliche Familienunternehmen im Hinblick auf Selbstversorgung zu stärken und welche Geschäftsmodelle sich hierfür anbieten. Eine dritte Promotionsarbeit zur Situation in Industrieländern verfolgt eine politikwissenschaftliche Analyse, inwieweit die derzeitige Struktur der Energiewirtschaft und die vorherrschenden Akteurskonstellationen die Ausweitung von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen in Deutschland beeinflussen.

Es wird Wert darauf gelegt, dass über die gegenseitige Unterstützung bei der Erstellung der Promotionsarbeiten hinaus weitere inhaltliche Synergien entstehen. Als Brückenkonzept für die interdisziplinäre Verständigung wird die Konstellationsanalyse genutzt, eine Methode die am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin entwickelt wurde (Schön et al. 2007). Diese Methode ermöglicht die Kartierung und Visualisierung der für eine Fragestellung relevanten Elemente (technische, natürliche und Zeichenelemente sowie soziale Akteure) sowie ihrer Beziehungen zueinander. Der Vergleich der unterschiedlichen Konstellationen der Implementierung von Mikroenergie-Systemen unter verschiedenen Kontextbedingungen ermöglicht eine Teilsynthese der Einzelergebnisse und – daraus abgeleitet – übergreifende Aussagen zur künftigen Bedeutung dieser Technologie.

Anmerkungen

[1]  Das Graduiertenkolleg setzt sich aus acht Promotionen zusammen, die von insgesamt sieben Hochschullehrern und -lehrerinnen verschiedener Disziplinen (Energie-, Konstruktions- und Produktionstechnik, Landschaftsplanung, Soziologie, Politikwissenschaften und Umweltpsychologie) an der Technischen Universität Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Magdeburg betreut werden.

[2]  Der Großteil der Promotionen des Kollegs wird in den Jahren 2009 und 2010 beendet werden, sodass in diesem Zeitraum mit einer Fülle an interessanten Ergebnissen gerechnet werden kann. Weitere Informationen unter http://www.tuberlin.de/microenergysystems oder bei Prof. Dr. J. Köppel (koeppel∂ile.tu-berlin.de) und Prof. Dr. M. Schäfer (schaefer∂ztg.tu-berlin.de), dem Sprecher und der Sprecherin des Kollegs.

Literatur

Fleischer, T.; Grunwald, A., 2002: Technikgestaltung für mehr Nachhaltigkeit – Anforderungen an die Technikfolgenabschätzung. In: Grunwald, A. (Hg.): Technikgestaltung für eine nachhaltige Entwicklung. Berlin, S. 95-146

Majer, H., 2002: Eingebettete Technik – Die Perspektive der ökologischen Ökonomik. In: Grunwald, A. (Hg.): Technikgestaltung für eine nachhaltige Entwicklung. Berlin, S. 37-63

OECD Development Assistance Committee, 1996: Shaping the 21st Century, Paris; http://www.oecd.org/dataoecd/23/35/2508761.pdf (download 9.1.09)

Prasad, G., 2005: Renewable Energy Technologies for Poverty Alleviation – Initial Assertment Report: South Africa. Energy Research Center, University of Capetown

Rammert, W., 2003: Technik in Aktion: Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen. In: Christaller, Th.; Wehner, J. (Hg.): Autonome Maschinen. Wiesbaden, S. 289-315

Schön, S.; Kruse, S.; Meister, M. et al., 2007: Handbuch Konstellationsanalyse. Ein interdisziplinäres Brückenkonzept für die Nachhaltigkeits-, Technik- und Innovationsforschung, München

World Bank Group, The International Bank for Reconstruction and Development, 2005: World Bank Group Progress on Renewable Energy and Energy Efficiency 1990-2004, Washington, S. 27

World Bank; IMF, 1999: Poverty Reduction Strategy Papers. Washington

Kontakt

Prof. Dr. Martina Schäfer
Technische Universität Berlin
Zentrum Technik und Gesellschaft
Hardenbergstr. 36 A, 10623 Berlin
E-Mail: schaefer∂ztg.tu-berlin.de